hr4 ÜBRIGENS
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Engel, Winfried

Eine Sendung von

Katholischer Ltd. Schulamtsdirektor i. K. i. R., Fulda

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Das Leben kennen

"Wenn Sie das Leben kennen, geben Sie mir doch bitte seine Anschrift!" Diesen Satz fand ich jetzt wieder beim Aufräumen auf einen Zettel geschrieben. Darunter stand nur: Jules Renard, Weimar, Hausfassade. Genau! Dort hatte ich den Satz vor vielen Jahren bei einem Gang durch die Stadt Weimar gelesen. Ich war damals fast schon vorbeigegangen, doch dann ging ich wieder einige Schritte zurück und schaute ihn mir an. "Wenn Sie das Leben kennen, geben Sie mir doch bitte seine Anschrift!" Unwillkürlich begann es damals in mir zu arbeiten. Was sollte das? Kann man das Leben kennen wie einen Menschen? Kann man seine Anschrift erfragen? Diese Fragen kamen wieder in mir hoch, als ich den Zettel las.

Der Satz stammt von dem französischen Schriftsteller Jules Renard. Wahrscheinlich hatte er genau das beabsichtigt, dass Menschen stutzig werden und sich mit seiner Aussage beschäftigen. Renard lebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er wurde besonders als Verfasser treffender Zitate und Aphorismen bekannt, weil es ihm oft gelang, die scharf beobachtete Wirklichkeit in knappen Beschreibungen wiederzugeben. "Wenn Sie das Leben kennen, geben Sie mir doch bitte seine Anschrift!" Immer wieder habe ich überlegt, ob ich die Bitte des Schriftstellers würde erfüllen können. Kenne ich das Leben? Ich meine ja. Doch dann zögerte ich. Nein, alles kannte ich wirklich nicht. Mein Leben war bis jetzt ganz gut verlaufen. Dass es auch anders sein könnte, wusste ich nur von anderen. Und ist mein Leben das Leben? Das Leben, das klingt nach rauer Wirklichkeit, nach Schwierigkeiten, auch nach Krankheit, Leid und Tod. Ja, das alles ist Leben. Und der einzelne Mensch bekommt davon mehr oder weniger mit.

Und welche Anschrift würde ich das Leben betreffend weitergeben? Klar ist: Die Anschrift für das Leben gibt es nicht. Es gibt sie nur für mein Leben. Das habe ich wieder neu gelernt.