hr2 ZUSPRUCH
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Wiesheu, Annette

Ein Sendung von

Katholische Studienleiterin an der Akademie des Bistums Mainz in Darmstadt

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Wohnungen erzählen Geschichten

Wohnungen erzählen etwas über ihre Bewohner. Möbel, Bilder und Einrichtungsgegenstände verraten etwas über das Leben, das dort geführt wird. Wer in eine fremde Wohnung kommt, wirft einen Blick in ein anderes Leben. 

Diese Unterkunft war meist eine winzige Wohnung

In New York habe ich ein Museum besucht, das genau das ermöglicht. Dieses Museum, das Tenement Museum, befindet sich in Manhattan, Lower East Side, einer Gegend, in der viele Einwanderer unmittelbar nach ihrer Ankunft in New York eine erste Unterkunft gefunden haben. Diese erste Unterkunft war meist eine winzige Wohnung in einem Mietshaus, einem tenement. Diese Mietshäuser waren alles andere als luxuriös: enge Treppenhäuser, Wohnung an Wohnung, kleine Wohneinheiten von maximal drei Zimmern, in denen sich oft große Familien drängten. 

Zum Teil sind Original-Gegenstände zu sehen

Das Tenement Museum ist ein solches Mietshaus und dort sind die Wohnungen von elf Familien rekonstruiert, die zwischen 1865 und 1970 dort gelebt haben – Familien aus Deutschland, Irland, Russland, Italien, aus Puerto Rico und China. Die Familien haben wirklich dort gewohnt, ihre Wohnungseinrichtung wurde rekonstruiert, gemeinsam mit den Nachkommen der Bewohner; zum Teil sind Original-Gegenstände zu sehen, Möbel, Bilder, Schmuckstücke, die in den Familien weitergegeben wurden. 

Eine Tour führt immer in zwei Wohnungen

Der Besuch der Wohnungen ist nur in Begleitung eines Museumsführers möglich, der auch die Geschichte der jeweiligen Familie erzählt. Eine Tour führt immer in zwei Wohnungen. Bei unserem Besuch haben wir die Wohnung der Familie Epstein gesehen. Die Epsteins waren jüdisch, Kalman und Rivka waren 1947 aus Europa gekommen. Beide waren schon einmal verheiratet – ihre ersten Ehepartner waren im Holocaust ermordet worden, genauso wie Eltern, Geschwister, Neffen und Nichten. Die beiden haben sich nach dem Krieg noch in Europa kennengelernt, geheiratet und in New York ein neues Leben begonnen, zwei Töchter bekommen. In der Wohnung hängt ein Foto der Eltern, am Eingang ist die Mesusa der Familie angebracht, eine kleine Kapsel mit einem Stück Pergament, auf dem ein Abschnitt aus der Tora geschrieben ist. Und im Kinderzimmer zeigt uns die Begleiterin Puppen und den für 1950er Jahre typischen Plastikschmuck, mit dem die Mädchen gespielt haben. 

Dort lag auch eine Bibel in spanischer Sprache

Die zweite Wohnung, die wir besucht haben, hat eine Familie aus Puerto Rico bewohnt, um 1955 kam sie nach New York. Der Vater hat die Familie verlassen, die Mutter hat die beiden Söhne allein großgezogen, als Schneiderin gearbeitet. Wir sehen die gute Stube, mit einem großen Sofa, das zum Schutz mit einer Plastikfolie überzogen ist, einem Tischchen, auf dem eine Bibel in spanischer Sprache liegt, ein Bild des Papstes an der Wand – und das der beiden Söhne am Tag der Feier ihres College-Abschlusses. 

"Sie bekommen ein Gesicht" 

Millionen von Einwanderern sind im Laufe der Jahrzehnte nach New York gekommen. Jeder und jede hatte ein eigenes Schicksal, eine persönliche Geschichte. In den Wohnungen im Tenement Museum wird das Leben von einigen von ihnen greifbar: Sie bekommen ein Gesicht. 

Das Tenement Museum weist in die Vergangenheit, aber ich muss dort auch an die Millionen Menschen denken, die heute Migranten sind, die ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen, die auf der Flucht sind. Auch jeder und jede von ihnen hat ein eigenes Schicksal, eine persönliche Geschichte, ein Gesicht.