Heimwehreise
Als der Bus von Frankfurt aus Richtung Osten startete, war er voll besetzt. 50 Menschen, Männer und Frauen, aus der ganzen Bundesrepublik wollten nach Ostpreußen, jenes Ostpreußen, dass heute Polen ist. Die meisten waren ältere Semester. Es ist eine weite Reise. Auf der Landkarte und für das Herz noch viel weiter. Denn sie geht ja zurück: in die Jugend, in die Erinnerung an die Flucht, und sie ist bedrückt durch die Sorge: “Was werde ich finden? Werde ich einen Rest Heimat finden oder gar Menschen, die sich vor mir fürchten?“
Eigentlich war es eine ruhige Gesellschaft - mit einer Ausnahme. Ein Mann war sehr laut und wusste alles und das immer besser als alle anderen. So blieb es nicht aus, dass man erfuhr, wo er herkam und wo er zusammen mit seiner Frau hin wollte. Die Überraschung bahnte sich am zweiten Tag an. Die Sitznachbarn hatten erklärt, dass sie sich gründlich in Danzig umsehen wollten. Von dort seien sie als Kinder auf die Flucht gegangen. Die Frau des lauten Mannes nickte: „Nach Danzig wollen wir auch, ganz besonders nach Danzig!“
Das war der Anlass sich gegenseitig vorzustellen und zu entdecken: Tatsächlich! Sie waren Cousin und Cousine, hatten als Kinder zusammen gespielt, damals in Danzig. Und irgendwann – sie hatten keine Ahnung warum - hatten sich die Familien zerstritten, und sie hatten sich nie mehr wiedergesehen bis zum heutigen Tag.
Dass sich diese Menschen wieder fanden: es war ein Sondergeschenk auf der Heimwehreise, das alle Mitreisenden bewegte. Selbst der laute Ehemann merkte, dass er und seine Erkenntnisse gar nicht mehr so wichtig waren. Gemeinsam konnten sie die Spuren der Kindheit verfolgen. Und - sie konnten gemeinsam aushalten, was nun nicht mehr Heimat war.