hr4 ÜBRIGENS
hr4
Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Ein Geheimnis des Lebens

Ein Geheimnis des Lebens

Er war ein Prahlhans. Und konnte alles, sagte er. Große Tiere jagen, Flugzeuge fliegen und alle Frauen bekommen, die er wollte. Der Schriftsteller Ernest Hemingway (1899 – 1961) prahlte eigentlich immer. Alkohol, Geld und Drogen waren auch im Spiel, wenn er redete. Nur beim Schreiben hatte er Angst. Angst, nicht gut genug zu sein. Dabei konnte er genau das richtig gut. Bis zum Nobelpreis für Literatur (1954 für „Der alte Mann und das Meer“).

Wer laut prahlt, hat meist ein kleines Herz mit viel Angst darin. Angst vor dem Leben, vor Menschen, vor dem Versagen. Wenn Hemingway aber einfach nur da saß mit dem Bleistift in der Hand und Geschichten schrieb, sah er sich und die Welt ehrlich und klar. Einmal schreibt er:

Die Welt zerbricht jeden;
und nachher sind viele an den zerbrochenen Stellen stark.*

Das ist nur richtig. Die Welt zerbricht jeden. Wer wird schon verschont. Viele Pläne scheitern, Menschen tun einander weh auch durch ihre Prahlerei oder lassen einander im Stich. Andere müssen mit Krankheiten fertig werden. Das Wunder ist, dass sie doch wieder stark werden, die Schwachen und Gescheiterten. Dass einen gerade die zerbrochenen Stellen stark machen, kräftiger, sogar mutig. Wie die Vase der alten Tante, die zerbrach und geklebt werden musste an der einen Stelle. Man dachte, das hält nur ein paar Tage, dann sei die Vase ganz kaputt. Irrtum. Gerade an der zerbrochenen Stelle bleibt sie heil, unzerbrechlich.

Scheitern macht stark. Wunden, die geheilt sind, machen kräftiger. Man lebt eben anders, wenn man weiß, wie verletzlich man ist. Und zwar ehrlicher. Zu sich selbst und anderen. Ehrlich sein macht stark. Ein Geheimnis des Lebens. Ich kann nur stark sein, wenn ich weiß, wie schwach ich oft bin. Das klingt nach einem Widerspruch, ist aber keiner. Wer dauernd prahlt, der Größte zu sein, will nur seine Angst übertönen. Wer ehrlich ist zu sich, wird gleich leiser. Stark ist, wer seine Schwächen kennt. Und genau weiß: Alleine bin ich gar nichts. Immer habe ich Menschen nötig, habe Gott nötig. Sonst heilen zerbrochene Stellen nie.

 

* aus dem Roman „In einem andern Land“ (1929)