hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Lemmer, André

Ein Sendung von

Katholischer Pfarrer in der Pfarrei Sankt Elisabeth in Kassel

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Herbert Grönemeyer: Mut

Musik: 0:00 - 0:38

„Es richten die Augen sich in die Stille
Es verfliegt die Unrast am Firmament
Da ist das zarte Blau im Schnee
Zuversicht zwischen Zeilen
Gedanken in der Zwischenzeit
An alle und die schon sehr viel“

Als hätte Herbert Grönemeyer dieses Lied mit dem Titel Mut extra für mich und meine Zwischenzeit geschrieben. Jedes Jahr besuche ich Exerzitien. Das sind geplante Auszeiten für mich und meine Seele. Man könnte mit Herbert Grönemeyer auch sagen: „Zwischenzeiten“, in denen ich mich eine Woche lang nur um meinen eigenen Glauben und mich selbst kümmere. Jedes Jahr will ich einmal bewusst Kraft tanken und Mut holen für meinen Alltag. Es gibt viele Arten, wie man diese Zwischenzeiten gestalten kann: ob in der Gruppe, wandernd oder einfach im Schweigen. Gerade das Schweigen hat es mir besonders angetan. Obwohl ich eigentlich ein kommunikativer Mensch bin und mir das Schweigen im Alltag schwerfällt, ist es mir in meinen Zwischenzeiten wichtig.

Die Stille hören

Zugegeben, gerade in den ersten Tagen ist es ungewohnt und mühsam, einfach mal die Klappe zu halten, aber irgendwann wird man dankbar, nicht reden zu müssen. Ich darf dann jedes Mal neu entdecken, wie wertvoll das andere, das Zuhören, sein kann. Dann, wenn sich meine Augen in die Stille richten – so wie Grönemeyer es ausdrückt – und ich mich durch mein eigenes Sprechen nicht ablenke, kann ich hinhören. Es beginnt damit, dass ich ganz alltägliche Geräusche ganz anders wahrnehme. Ich bemerke, wie viel Autogebrumme und Vogelgezwitscher selbst durch die geschlossenen Fenster in mein Zimmer dringen. Höre, dass das Haus, in dem ich sitze, eigene Geräusche hat. Wenn ich jetzt meine Ohren zuhalte, höre ich mich - das Rauschen meines Blutes durch meinen Körper, den Schlag meines eigenen Herzens. All das ist immer da, und doch höre ich es so selten. All das ist immer da, aber ich höre nicht hin.

Wenn ich in meinen Exerzitien, also meiner Zwischenzeit, an diesem Punkt angekommen bin, wenn ich die Alltäglichkeit höre und auch neugierig darauf bin, in diesen Geräuschen neue Töne zu entdecken, dann weiß ich, dass bald der nächste Schritt folgt.

Musik: 0:39 bis 1:17

„Ich rede einmal nicht
Und lass' mir erzähl'n von einer ganz andern Sicht

Wie verbreitet sich der Mut des Herzens?
Wie enteilt man der Raserei?
Und bring' ich Ruhe in die Bewegung
Und steh' ich auf für 'ne weite Zeit“

„Ich rede einmal nicht, lass mir erzählen von einer ganz anderen Sicht“, singt Grönemeyer. Für mich hat Schweigen lernen wirklich etwas mit einem Perspektivwechsel zu tun. Schweigen muss ich im doppelten Sinn: Nicht nur mein Mund muss schweigen, sondern auch mein Kopf - das ist der zweite Schritt. Erst wenn ich es geschafft habe, mehr zu hören als zu denken, kann ich anders und neu wahrnehmen, was um mich herum geschieht.

Gerade in den Exerzitien, in einer ungewohnten Umgebung, entdecke ich viele neue Klänge um mich herum. Je mehr ich hinhöre und je mehr Freude ich daran habe, Neues zu entdecken, umso wertvoller werden mir dann die Worte, die ich in der Bibel lese oder in den Gottesdiensten höre. Je öfter ich hinhören kann und weniger selbst reden muss, umso mehr komme ich wirklich innerlich zur Ruhe. Ich kann mich fallen lassen, weil ich selbst losgelassen habe - losgelassen all das, was mich davon abhält, auszuruhen.

Loslassen, was belastet

Am Anfang fällt mir das oft schwer. Ich glaube, weil es Mut erfordert, loszulassen. Ist es nicht so, dass es in meinem Alltag wichtig ist, ganz konzentriert bei der Sache zu sein? Meine Gedanken ganz fokussiert für meine Arbeit einzusetzen und alle Informationen schnell und gut zu verarbeiten, zu entscheiden und zu kommunizieren? All das, was in meinem Alltag so wichtig ist, spielt jetzt keine Rolle. Ich muss loslassen.

Grönemeyer fragt auch: „Wie verbreitet sich der Mut des Herzens, wie enteilt man der Raserei?“ Das trifft für mich den Nagel auf den Kopf. Das ist eine zentrale Frage in meiner Zwischenzeit: Wie kann ich all das, was mich in Hektik bringt, loslassen?

Für mich als Christ ist es sehr wichtig, den Alltag mal Alltag sein zu lassen, zu einer tiefen inneren Ruhe zu kommen und mich ganz bewusst in die Gegenwart Gottes zu begeben. Der Heilige Augustinus, Bischof von Hippo im heutigen Algerien, hat das Ende des 4. Jahrhunderts so beschrieben: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ Mir hilft dieser Satz ungemein. Denn wo ich selber mal alles aus den Händen lege, den Mut aufbringe vielleicht mal nicht immer alle Informationen zu verarbeiten, meine Gedanken treiben zu lassen und zu schweigen, da kann ich mich geborgen fühlen, weil ich weiß: Gott ist da.

Das eigene Ich im neuen Licht betrachten

Viel intensiver spüre ich: In mir ist nicht nur mein Ich, sondern auch noch Gott. Dieser zweite Schritt, Gott zu erfahren oder zumindest zu erahnen, ist dabei alles andere als passiv. Denn dieser Schritt führt mich in eine Weite, die damit beginnt, mich selbst zu reflektieren. Wo stehe ich gerade? Was ist in der letzten Zeit geschehen? Was hat mich gefreut? Was ist vielleicht geschehen, das mir schwergefallen ist? Wie gehe ich mit mir selbst um und auch mit anderen?

All diese Fragen und noch einige mehr betrachte ich dann aber in einem neuen Licht: mit Ruhe im Herzen und mit dem Wissen um die Geborgenheit in Gott. Denn es geht gerade nicht darum, zu bewerten: Was habe ich gut gemacht oder gesagt, und was habe ich schlecht gemacht? Es geht einfach nur darum, alles noch einmal hervorzubringen und zu betrachten. Das fühlt sich für mich weit an.

Musik: 1:18 bis 2:21

„Rund um den geweihten Abend
Zieht das Jahr Bilanz
Erlässt die Fehler und lehrt verzeih'n
Das Leben ist ein Seiltanz
Ein hauchzartes Porzellan
Versuchung und Unwägbarkeit
Doch der Funke glimmt
Für einen Aufbruch, der gegen alle Ströme schwimmt

Wie verbreitet sich der Mut des Herzens?
Wie enteilt man der Raserei?
Und bring' ich Ruhe in die Bewegung
Und steh' ich auf für 'ne weite Zeit“

Eigentlich hat Herbert Grönemeyer sein Lied Mut für die Zeit um Weihnachten, die Zeit „zwischen den Jahren“, geschrieben. Eine Zeit, um Bilanz zu ziehen und in dieser Zwischenzeit den Rückblick auf das vergangene Jahr zu wagen. In meinen Exerzitien mache ich genau das. Ich versuche, durch die Stille und mit Gott eine Gelassenheit zu entwickeln, die mir erlaubt, mir selbst zu verzeihen.

„Das Leben ist ein Seiltanz“, singt Grönemeyer. Ja, denke ich mir, nicht immer gelingt mir alles so, wie ich es gerne hätte. Oft sind Stress und Druck mitverantwortlich für manche Entscheidungen, und nicht immer kann ich so einfach die Balance halten. Auch was um mich herum geschehen ist, was ich nicht beeinflussen kann, erscheint mir in meiner Zwischenzeit in dieser Weite. Da fällt es mir leichter, auch anderen zu verzeihen, die ja auch genauso wie ich in ihrem rasanten Alltag, in ihrem Seiltanz eingebunden sind.

Wieder die eigene Balance finden

Die Weite, die ich habe, wenn ich mich in die Gegenwart Gottes begebe - dieses ruhende Herz - gibt mir Gelassenheit. Und aus dieser Gelassenheit kann ich auch meine Haltung überdenken. Stehe ich noch richtig? Oder schwimme ich mit einem Strom, in dem ich gar nicht sein möchte? Wenn ich dann entdecke, dass ich meinen Kurs noch mal korrigieren muss, gelingt mir das in einer Zwischenzeit leichter als im Alltag. Denn in meiner Zwischenzeit geht es ja nicht darum, mich zu schämen oder schlecht zu fühlen, weil ich nicht ganz in der Balance bin, sondern gerade darum, aus der Gelassenheit die Kraft zu ziehen, wieder in die Balance zu kommen.

Die Stille, der sich daraus ausbreitende Mut des Herzens und Gott sind für mich also Kraftquellen, die mich in die Balance bringen, in der ich sein möchte. Sobald ich wieder in Balance bin, gibt mir das den Mut, in meinem Alltag auch gegen den Strom zu schwimmen. Es zu wagen mal für die eigene Meinung einzustehen oder auch ehrlich zu sich selbst zu sein und den Kurs zu ändern. Besonders aber lehrt mich meine Zwischenzeit, mir selbst gegenüber fair zu bleiben.

Musik: 2:22 bis 3:02

„Es gibt kein Süd
Es gibt kein Nord
Es gibt kein West
Kein Osten
Es eint der Wunsch
Nach Heim und Hort
Nach sichrem Halt
Und Unterstand“

Ein ruhiges Herz schenkt Kraft für Neues

„Unruhig bleibt unser Herz, bis es ruht in dir“, schreibt der heilige Augustinus, und ich glaube, für ihn hat diese Ruhe auch etwas mit Sicherheit und Geborgenheit zu tun. So geht es auch mir. In meiner Zwischenzeit geht es viel um die Erfahrung von Sicherheit, dem Gefühl, nicht ganz allein auf mich selbst gestellt zu sein. Lieber mal hinzuhören als zu reden. Sich mit manchen Entscheidungen und Urteilen auch mal Zeit zu lassen - auch wenn einem der Alltag glauben macht, es müsse alles ganz schnell gehen.

Einmal im Jahr nehme ich mir ganz bewusst die Zwischenzeit, um genau das neu zu lernen, weil ich es im Alltag immer wieder vergesse. Einmal im Jahr nehme ich mir die Möglichkeit, mich selbst hinter der Hektik zu verstecken und gehe in die Stille. Wenn ich es dann geschafft habe, die Vögel durch das Fenster meines Zimmers zwitschern zu hören und die ganz eigenen Geräusche des Hauses wahrnehme, dann weiß ich: Bald beginnt die weite Zeit. Ich höre meinen eigenen Herzschlag und weiß, dass ich jetzt Kraft und Mut für mein Leben sammeln kann - mit Gott.

Musik: 3:03 – 3:47

„Wie verbreitet sich der Mut des Herzens?
Wie enteilt man der Raserei?
Und bring' ich Ruhe in die Bewegung
Und steh' ich auf für 'ne weite Zeit
Wie bring' ich Ruhe in die Bewegung?
Und steh' ich auf für 'ne weite Zeit?“