Dement
Meine Nachbarin hat im Wohnzimmer gesessen und aus dem Fenster geblickt. Als ich eingetreten bin, hat sie sich mir langsam zugewandt. Ihr Blick war leer. Nein, Sie wusste nicht, wer ich war. Sie erinnert sich nicht mehr an die vielen Stunden, die ich bei ihr verbracht habe. Als ich damals als Kind einfach durch das Loch im Gartenzaun gekrochen bin. Wir haben dann zusammen die Hühner gefüttert, ich habe beim Bohnen schnippeln geholfen oder habe einfach nur in der Hollywoodschaukel gelegen und Kirschen genascht. So viele Erinnerungen.
Doch diese Erinnerungen gibt es nur noch für mich. Meine Nachbarin ist dement. Erkennt oft ihre eigenen Kinder nicht mehr. Sie muss gefüttert werden, weil sie nicht mehr weiß, wozu Gabel und Löffel neben dem Teller liegen. Ich habe mich neben sie gesetzt und erzählt. Von früher, und was ich jetzt so mache. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Ich weiß nicht, was sie verstanden hat. Dann habe ich ihre Hand genommen. Sie einfach fest gehalten und leicht gestreichelt. In dem Moment hat sich ihr Gesicht aufgehellt und ein Lächeln ist über ihre Lippen gehuscht.
Mir ist klar geworden: Worte sind für sie nicht mehr wichtig. Aber füreinander da sein können wir noch. Sie spürt die Zuneigung und Zuwendung, die ich ihr entgegenbringe. Es war die sanfte Berührung an der Hand, die sie lächeln ließ. Auch wenn wir uns nicht mehr unterhalten können, ist sie trotzdem noch da. Dieselbe Person, mit der ich so viele Stunden verbracht habe. Auch wenn wir einen anderen Weg finden mussten, um uns zu begegnen.