Auferstehung mitten am Tag
Thomas hat heute Geburtstag. Nach großer Feier ist ihm nicht zu Mute. Doch die ersten Nachbarn klingeln schon an der Tür: „Glück und Segen auf all deinen Wegen!“ Thomas rafft sich auf und zeigt sich gastfreundlich. Inmitten von Blumensträußen und Geschenken wird auf sein Wohl angestoßen. Er schaut in die Runde – so war es lange nicht mehr. Dann: Für einen Moment zieht das Geräusch einer aufspringenden Tür die Aufmerksamkeit auf sich. Einen Spalt weit steht die Tür offen, dahinter in fahlem Licht eine in die Jahre gekommene Tapete. „Ach ja, die Tür“, Thomas steht auf, schließt sie, sucht wieder seinen Platz in der ungewohnten Runde. Aber kaum, dass er gesessen hatte, schon wieder. Jetzt wird es im Wohnzimmer ganz still: Susanne steht in der Tür. Thomas eilt hin, spricht leise mit ihr, will sie vorsichtig, aber bestimmt ins Zimmer zurück schieben. „Susanne, unser Sorgenkind, ihr wisst schon.“ Aber dieses Mal will einer der Nachbarn nicht einfach „schon wissen“. Er fasst sich ein Herz, steht auf, geht auf Susanne zu und streckt ihr die Hand entgegen: „Komm, Susanne, iss und trink, du gehörst dazu!“ Susanne steht da, hebt langsam den Kopf, schaut ihrem Gegenüber vorsichtig ins Gesicht. Langsam streckt auch sie ihre Hand aus; darin eine rosafarbene Blume aus Plastik. Niemand sagt etwas. Alle sitzen da und schweigen, auch Thomas. Tränen rinnen über sein Gesicht. Wie lange hat er schon nicht mehr geweint?! Aber er kann jetzt nicht anders – nach all der Zeit. Wie ein schwerer Stein liegt auf seinem Lebensmut das Getuschel der Leute, wenn er mit Susanne ins Kino ging; die kurzfristigen Entschuldigungen, wenn es wieder einmal nicht passte, Susanne zu besuchen; das schlechte Gewissen, wenn er sie vielleicht für eine Woche in der Tagespflege unterbrachte, um einmal raus zu kommen. Dass mal einer sagen würde „du gehörst dazu“, hatte er nicht mehr für möglich gehalten und es ist, als wäre es heute auch für ihn bestimmt.
Das gefasste Herz, die kleine Geste, die wenigen Worte – wie aus einer dunklen Höhle aus Verzweiflung, Kraftlosigkeit und Scham kann er durch einen immer größer werdenden Spalt das Leben sehen, wie es auch ist: Susanne in der Runde, die stolz und glücklich ihre rosafarbene Blume verschenkt hat; die Nachbarn mit ihrer je eigenen Lebensgeschichte, die extra gekommen sind, um ihm Glück und Segen zu wünschen; die durchs Fenster scheinende Sonne, die das Leben beleuchtet. Thomas wischt noch einmal Tränen aus seinem Gesicht. Ein bisschen fühlt er sich wie neu geboren. Und an dieses Gefühl möchte er sich in Zukunft halten.