hr4 ÜBRIGENS
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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Abends wurde gebetet

Abends wurde gebetet

Abends wurde gebetet. Ich war zwei und drei Jahre alt, lag im Bett, an der Wand neben mir ein Bild mit vierzehn Engeln. Dann betet die Mutter mit mir. Sie spricht, ich höre, die kleinen Hände gefaltet: Müde bin ich, geh' zur Ruh', schließe beide Äuglein zu (Kindergebet von Louise Hensel, 1798 –1876). Wenn die Mutter nicht da ist, kommt die Oma. Die konnte ihre Hände nicht richtig falten. Wegen ihrer Gicht. Die Finger schlossen sich nicht umeinander. Als Kind sieht man das genau. Auch die immer dunklen Kleider der Oma und dass sie sich schlecht bewegen konnte. Wenn sie saß, kam sie kaum hoch. Lieber stand sie neben dem Kinderbett, legte ihre Hände auf das Gitter und betete: Vater, laß die Augen dein / über meinem Bette sein. Irgendwann konnte ich ein paar Worte mitsprechen. Müde bin ich, das war leicht. Oder: Vater, lass die Augen dein, war schön, weil sonst kein Vater da war. Als das Leben dann unruhiger wurde und wir wegzogen, saß niemand mehr neben dem Bett. Ich sprach für mich alleine: Hab ich Unrecht heut getan, sieh' es, lieber Gott, nicht an! Ich weiß nicht, ob ich schon wusste, was genau „Unrecht“ ist. Man sagt einfach, was man gelernt hat. Beten war so selbstverständlich wie Essen und Atmen.

Was in den ersten Jahren Abend für Abend geschieht, zeichnet sich tief in die Seele. Die Mutter, immer etwas bedrückt. Die Oma, gebeugt und verkrampft mit ihrer Gicht. Das Kind im Bett, vor der Welt beschützt durch Menschen und Gebet. In diesen paar Minuten am Abend wird beim Kind etwas gepflanzt, das nie mehr verdorrt: Beten tut gut. Es beruhigt, tröstet ein bisschen, legt sich wie die Bettdecke auf einen und wärmt. Es geht beim Beten nicht um Wünsche und dass der liebe Gott dies und das machen soll, möglichst sofort. Viel wichtiger ist die Ruhe. Beten beruhigt; bringt ein wenig Abstand zwischen die schwere Welt und mich. Wer betet, schiebt die Welt beiseite und öffnet Gott eine Tür. Da ist noch jemand, der sich kümmert, nicht nur Mutter und Oma. Da ist noch jemand, der aufpasst. Der sogar den Engeln befehlen kann. Beten macht Platz für die Engel. Dann ruht es sich besser.