hr4 ÜBRIGENS
hr4
Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Wir lieben, weil…

Wir lieben, weil…

Marie ist fünfzig geworden vor ein paar Tagen. Das war schlimm. Fünfzig klingt alt, und Marie ist nicht alt. Etwas traurig, ja, weil das Leben so schnell vergeht. Sie ist geschieden, hat einen Freund, zwei große Kinder und ist voller Leben. Auch der Beruf macht ihr Freude. Sie ist Erzieherin und liebt die Kleinen, die lernen müssen, die große Welt zu verstehen. Dabei hilft Marie. Nicht nur beim Malen und Hütten bauen hilft sie. Sie putzt auch Nasen und schnürt Schuhe. Oder trocknet Tränen auf dem Hof.

Gerade aber ist sie etwas traurig über diese Zahl fünfzig. Sie seufzt mehr als sonst. Eines Abends liest sie in einem Buch den Satz: Wir lieben, weil wir nicht sterben wollen. Erst bemerkt sie den Satz nicht richtig. Später im Bett kann sie nicht einschlafen, weil sie dauernd denken muss: Wir lieben, weil wir nicht sterben wollen. Marie ahnt, dass der Satz stimmt. Sie weiß aber nicht, warum sie das findet. Bis ihr die Kinder im Kindergarten einfallen, und ihre eigenen Kinder, und ihr Freund, der heute nicht da ist. Dann fallen ihr noch Menschen ein, die sie auch kennt und gerne mag: Ihr Vater, der Witwer ist, die kranke Freundin, ein paar Kolleginnen. Warum habe ich die gern, fragt sich Marie? Sie weiß viele Gründe: weil sie hilfsbereit sind, weil sie ihr zuhören, sie nicht schnell urteilen und viel lachen können. Alles schön, denkt Marie. Und kann immer noch nicht einschlafen. Aber Liebe ist doch mehr; mehr als gern haben.

Marie ahnt jetzt, warum sie traurig ist und was sie da gelesen hat: Wir lieben, weil wir nicht sterben wollen. Wer fünfzig ist, spürt Marie, ahnt seinen Tod, einerseits. Und andererseits: Liebe hält auch die Zeit an, hält also den Tod auf. Liebe ist mehr als gern haben. Wenn ich meinen Freund umarme, denkt Marie, ein Kind tröste oder meinem Vater zuhöre, habe ich sie gern. Und halte zugleich auch noch die Zeit an, ihre und meine Zeit. Schiebe die Trauer beiseite, die Schwermut, die Vergänglichkeit, all die kleinen Todesboten. Liebe ist wie ein kuschelwarmes Bett, sagt sich Marie, als ihr die Augen zufallen. Da soll der Tod ruhig draußen bleiben. Noch ganz lange.