Wie sieht Gott aus
Als ich um die Ecke biege, hat er mich längst im Blick. Steht da der Vierjährige am Rande der Spielwiese unseres Kindergartens und hält Ausschau. Drängelt sich durch die lichten Sträucher, bleibt am Zaun stehen und wartet. „Ich kenne dich von der Kirche“, ruft er mir zu und kommt ohne Umschweife zur Sache: „Weißt du, wie der liebe Gott aussieht?" So unvermittelt gestellt, bringt mich die Frage in Verlegenheit. Worauf will der Kleine hinaus? Mit meiner Antwort versuche ich möglichst offen zu bleiben: „Gott habe ich auch noch nicht gesehen. Aber ich weiß, dass er ganz verschieden sein kann. Jeder kann sich Gott so vorstellen, wie er möchte“, erzähle ich dem Knirps, „zum Beispiel wie jemanden, den man ganz doll lieb hat“. Während ich mich noch bemühe, Formulierungen zu finden, die die kindliche Vorstellungswelt möglichst nicht einengen sollen, wirft sich der kleine Junge plötzlich weinend auf den mit Laub bedeckten Boden. „Du musst sagen, dass der liebe Gott ein alter Mann ist und einen Bart hat“, ruft er verzweifelt.
Noch voller Schrecken dämmert es mir. Hatte ich ihm nicht gerade eben noch gesagt: ‚Man darf sich Gott so vorstellen, wie man es möchte?‘ Es war offensichtlich. Der Vierjährige hatte ein Bild von Gott. Für ihn ist es plausibel und weckt sein Vertrauen. Und ich, die Frau aus der Kirche, soll ihm dieses Bild bestätigen. Ich muss Sicherheit geben. Wenn ich, die Frau aus der Kirche, Unklarheit und Unsicherheit erzeuge, dann bringt das den kleinen Gottessucher zur Verzweiflung. Als Erwachsene tun wir gut daran, Kindern ihre Bilder zu lassen, auch wenn sie unseren „aufgeklärten“ Vorstellungsweisen manchmal nicht so ganz entsprechen. Das nächste Mal werde ich erst einmal zurückfragen: „Was meinst du denn? Wie sieht Gott aus?“ Danach kann ich auch von meinen Bildern erzählen. Wie sich Bilder, die ich von Gott habe, im Laufe meines Lebens verändern. Aber auch davon, was bleibt. Wenn ich auf mein Herz höre und ihn mit dem Herzen sehe, dann erfahre ich etwas von Gott. Dann wird er für mich lebendig, so wie er es für den kleinen Jungen geworden ist: in dem alten Mann, der einen Bart hat.