hr4 ÜBRIGENS
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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Der Junge, der schon verloren hat

Der Junge, der schon verloren hat

Alex ist elf Jahre und hat schon verloren. In der Schule hängt er zurück, müsste in der fünften Klasse sein, ist aber erst in der vierten. Er schreibt schlecht, liest holprig und rechnet fehlerhaft. Zuhause ist er oft allein. Die Mutter muss arbeiten, seinem älteren Bruder ist er im Weg. Alex stellt sich selbst den Wecker, macht morgens alleine Frühstück und geht dann zur Schule. Seine Kleidung ist ihm egal, und so sieht er manchmal auch aus. Eigentlich ist er pfiffig – aber was hilft das, wenn niemand auf ihn achtgibt. Ob er seinen Vater überhaupt kennt, weiß ich nicht. Die Tanten und Großeltern sind weit weg.

Er wirkt auf mich, als habe er schon verloren. Er spielt gerne und lacht, wenn er gewinnt. Meistens aber ist er alleine. Dann guckt er Fernsehen, stundenlang. Immer die Programme, in denen es laut zugeht, Autos zusammen stoßen und Fäuste fliegen. Eigentlich müsste Alex lesen üben und schreiben und rechnen. Am nächsten Tag dann ist er ohne Hausaufgaben in der Schule. Wenn der Lehrer ihn fragt, zuckt Alex die Achseln und sagt: Vergessen; oder: Ich konnte das nicht. Der Lehrer weiß es besser, hat auch schon Zuhause nachgefragt, aber geändert hat sich nichts. Irgendwann zuckt auch der Lehrer die Achseln und denkt: Dann kommt er eben in die Sonderschule.

Alex kann mehr, als er zeigt. Nur eben nicht alleine. Er braucht Hilfe; mit einem gewissen Druck. Du machst das jetzt, muss jemand sagen und den Fernseher abstellen. Du kannst das auch, wenn du übst. Aber da ist niemand. Alle rund um Alex sind mit sich selber beschäftigt. Die Mutter muss arbeiten oder will zu ihrem Freund, der Bruder hat seine Lehrstelle und eigene Freunde. Wenn ein Lehrer Hilfe anbietet, geht Alex nicht hin. Sich rausreden hat er auch schon gelernt. Er ist einfach auf der Verliererstraße, von Anfang an. Hatte nie eine echte Chance. Was soll aus ihm werden?

Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass wir nie wegschauen dürfen, nie. Liebe Eltern und Großeltern, Tanten und Onkel, liebe Lehrer, Nachbarn und alle, die es hören: Bitte kümmert euch, auch wenn’s manchmal schwer fällt. Kinder dürfen nicht verloren gehen. Sie sind doch Gottes Geschenk an die Welt.