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Dörken-Kucharz, Dr. Thomas

Ein Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt

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Spiegelbilder

Der erste Mensch, der sein Spiegelbild beim Trinken aus der Quelle im Wasser erblickte, ist vermutlich erschrocken. Vielleicht brauchte er oder sie einige Zeit zu merken: Da ist kein Angreifer, sondern ich sehe mich selbst.

Eine ganze Weile später in der Menschheitsgeschichte gibt es das andere Extrem: Den jungen Mann namens Narziss. Narziss erschrickt nicht vor seinem Spiegelbild, sondern verliebt sich darin.

Spieglein an der Wand und Zauberspiegel

Spiegel und ihre Macht haben die Menschen von Anfang an beschäftigt. Man erzählt sich von Zauberspiegeln: vom Spieglein an der Wand bei Schneewittchen oder dem Zauberspiegel bei Harry Potter. Spiegel waren selten und kostbar. Das Prunkstück des Schlosses in Versailles ist ja nicht ohne Grund der Spiegelsaal.

Objektiv und unbarmherzig

Inzwischen sind Spiegel alltäglich geworden. Viele Bürohäuser sind mit spiegelnden Oberflächen versehen. Ohne den Blick in den Spiegel verlässt man nicht das Haus. Und Autofahren ist ohne Rückspiegel gar nicht erlaubt. Keine Frage, Spiegel gehören zum Alltag. Dabei können sie ganz schön unbarmherzig sein, zum Beispiel morgens im Bad. Sie sind eben objektiv und gehorchen den strengen Gesetzen der Optik.

Der Mensch: Ein Spiegelbild

Gleichzeitig sind wir selbst so etwas wie ein Spiegelbild. Das behauptet jedenfalls die Bibel im Schöpfungsbericht. Jeder Mensch ist Ebenbild oder Spiegelbild Gottes. Am Anfang der Bibel heißt es: „Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei“ und wenig später: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ (1. Mose 1, 27 f.)

Ach Du liebe Zeit! Wie muss denn Gott aussehen, wenn die Menschen seine Ebenbilder sind. Das kann doch so nicht stimmen. Es stimmt in der Tat so einfach nicht. Denn dass die Menschen seine Ebenbilder sind, das war Gottes Schöpferwille. Auf einem anderen Blatt steht, was wir daraus gemacht haben. Der Spiegel ist jedenfalls ziemlich dunkel und matt geworden. Denn vieles, was Menschen tun, entspricht nicht dem Guten, zu dem Gott die Menschen geschaffen hat.

Gott spiegelt sich im Anderen

Und trotzdem bleibt es bei der Aussage der Bibel: Menschen können ein Spiegel Gottes sein. Allerdings nicht allein. Dass Menschen vom Ursprung an Mann oder Frau sind, also nicht allein sind, heißt doch auch: Keiner oder keine hat einen Vorzug. Der Mensch ist Spiegelbild Gottes als soziales Wesen. Nicht als vereinzeltes Individuum. Wir sind füreinander bestimmt als Ebenbilder Gottes. Wir finden Gott nicht im eigenen Spiegelbild, sondern begegnen Gott im anderen. Wir sollen also uns selbst nicht für Götter halten und uns in unser eigenes göttliches Spiegelbild verlieben.

Doch ein Schuss davon tut gut morgens vor dem Spiegel. Wenn ich mir da sage, ich bin ein Ebenbild Gottes, verschwindet dieser kritische eigene Blick auf mich selbst und ich sage mir. Du bist von Gott gewollt und von ihm geliebt, so wie du bist.