Lehrt Not Beten?
Wir sind bei Freunden zum Essen eingeladen. Es steht dampfend auf dem Tisch. Der Jüngste, der fünfjährige Thomas, soll beten und das tut er auch: „Lieber Gott, segne flott, lasse Deinen Segen über unsre Speisen fegen!“ Wenn der Hunger groß ist, darf es auch beim Beten schnell gehen.
Ein Tischgebet mit Humor
Ein Tischgebet mit Humor. Das entkrampft. Die Zeiten sind vorbei, in denen das Tischgebet eine lästige Pflicht und eine strenge Sitte war, gesprochen vom Vater, dem sogenannten Familienoberhaupt.
Vor dem Essen, auf dem Fußballfeld, nach Katastrophen
Rund ein Viertel der Deutschen betet außerhalb der Kirchen. Im öffentlichen Raum sieht man es im Sport vor dem Start auf der Tartanbahn oder auf dem Fußballfeld. Und nach Katastrophen. Da sind viele froh, dass die Kirche ein Ort ist für den Schrei nach dem Warum. Und für eine Kerze für die Getöteten und die Angehörigen. Also doch: Not lehrt Beten. Wo reales Grauen unseren gesellschaftlichen Alltag unterbricht, da ist dann auch Platz für Trauer, Rituale und Gebete.
Ein persönliches Stoßgebet
Und im persönlichen Leben? Mit Mitte zwanzig verlor ich bei einem Sportunfall meinen Ringfinger. Mein erster Gedanke im Schock war ein Stoßgebet: „Gott im Himmel, lass das nicht wahr sein!“ Doch ein Gebet macht nicht ungeschehen. Immerhin hat es mir geholfen, den Verlust zu verarbeiten.
Gehen Gebete in Erfüllung?
In auswegloser Situation sehnt man eine Instanz herbei, auf die man sonst weniger angewiesen scheint. Ob Not aber richtig beten lehrt, bezweifele ich. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass anscheinend so wenige Gebete in Erfüllung gehen. Dabei hat Jesus doch gesagt: „Bittet, so wird euch gegeben! Klopft an, so wird euch aufgetan!“ Doch so einfach ist das nicht. Gebetserfüllung funktioniert nicht so wie Aladdins Wunderlampe. Gott ist kein Geist, der augenblicklich Wünsche Realität werden lässt. Sondern Gott ist Gott. Wir verfügen nicht über ihn, sonst wäre er ja nicht Gott.
Beten tut gut
Ob und wem beten nützt, kann ich nur durch das Beten selbst herausfinden. Und wenn ich es tue, nützt es - schon allein deshalb, weil ich dadurch die Menschen und mich selbst mit anderen Augen sehe. Beten tut gut, aber Gott ist nicht der Erfüllungsgehilfe meiner Phantasien.
Wie Jesus in der Not betet
Neben jenes Jesuszitat „Bittet, so wird Euch gegeben!“ muss man deshalb ein anderes stellen: Als Jesus im Garten Gethsemane verhaftet wird, greift einer seiner Anhänger zum Schwert, um Jesus zu verteidigen. Jesus befiehlt ihm, das Schwert einzustecken, und fügt hinzu: „Oder meinst Du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, dass er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickt?“ (Matthäus 26, 53) Genau darum aber bat Jesus nicht, sondern in seiner Not darum, dass wenn es möglich ist, dieser Kelch an ihm vorübergehe. Und nicht sein, sondern Gottes Wille möge geschehen.
Sich darauf zu verlassen, dass die Not einen Beten lehrt, greift zu kurz. Besser ist es, beten zu lernen. Wenn man es nicht schon in der Kindheit gelernt hat. Zum Beispiel mit so einem schönen Tischgebet wie dem von Thomas.