Das Lebendige unter der Oberfläche
Bei der Wasserlinie eines Schiffes unterscheidet man im italienischen Seemannsjargon zwischen dem lebenden und dem toten Teil des Schiffes. Interessanterweise liegt für die Seeleute der lebendige Teil aber nicht oberhalb der Wasserlinie, sondern darunter. Mit dieser Erklärung beginnt ein italienisches Büchlein, das ich im Urlaub gelesen habe: „Live in Pompei“, „Leben in Pompeji“. Für Seeleute ist der tote Teil oberhalb der Wasseroberfläche. In dem Büchlein heißt es: „Der lebende Teil, der das Gewicht des Schiffes trägt, befindet sich darunter, unter Wasser: geduldig und notwendig.“
Die Brötchen in Pompeji hatten die gleiche Form wie heute
Das Buch stammt von einem italienischen Ehepaar, Ilaria und Simone Marchesi. Für die beiden Historiker ist der lebendige Teil der Geschichte auch derjenige, der unter der Oberfläche liegt. Pompeji wurde 79 nach Christus bei einem Ausbruch des Vesuvs in wenigen Minuten unter Schutt und Asche versenkt. Mit einer Gruppe von 14 kleinen Kindern hat sich das Ehepaar einige Tage lang auf die Suche nach dem Leben in der toten Stadt Pompeji gemacht. Die Kinder sind fasziniert vom Ausbruch des Vulkans und betrachten den Vesuv respektvoll aus dem Fenster des Autobusses. 1944, mitten im Zweiten Weltkrieg, ist er das letzte Mal ausgebrochen. Später schauen die Kinder einer Restauratorin über die Schulter, wie sie die Mosaiksteinchen reinigt. Sie sind erstaunt, dass die Brötchen damals in Pompeji die gleiche Form hatten wie noch heute in Italien. Und sie entdecken mit ihren 28 Augen in der vermeintlich toten Stadt auch ihre eigene lebendige Welt neu.
Lebendige Worte, geschrieben mit heute toten Sprachen
Das Lebendige liegt unter der Oberfläche – auch für mich und meine Arbeit als Theologe war das eine wichtige Einsicht. Die jüngsten Schriften der Bibel sind 2000 Jahre alt, etwa aus der Zeit, in der der Vulkan über Pompeji ausgebrochen ist. Die ältesten sind noch einmal etwa 1000 Jahre älter. Die biblischen Sprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch nennt man oft tote Sprachen. Und trotzdem sind es für mich lebendige Worte – Worte, die ich auch anderen so erschließen möchte, dass sie Leben für sie bekommen. Kinder können mit ihren einfachen Fragen oft helfen, diese toten Buchstaben zum Leben zu bringen.
Tastend erschließen, statt unter der Alltagsoberfläche verdrängen
Das Lebendige liegt oft unter der geschichtlichen Oberfläche meines Alltags – in der Bibel, aber auch in meinem Leben. Das war eine Erfahrung, die ich aus dem Urlaub mitgenommen habe: Wenn ich es verdränge, kann es ausbrechen wie aus dem feurigen Wurzelbereich eines Vulkans. Ich kann es mir aber auch tastend erschließen. Dann kann das, was unter der Oberfläche ist, zu einer Quelle gelingenden Lebens werden.