Das kleine Museum der Tagebücher
Eher zufällig bin ich in den Herbstferien auf der Suche nach einer Unterkunft in Pieve di Santo Stefano gelandet, einer kleinen Stadt in der Toskana. Im Internet hatte ich gelesen, dass dieser Ort 1944 von deutschen Soldaten weitgehend zerstört wurde. Und am Ortseingang stand eine Tafel; darauf wurde beschrieben, wie der Ort zweimal fast untergegangen wäre, das erste Mal durch ein verheerendes Hochwasser und dann eben durch die deutschen Truppen. Aus Rache haben die den ganzen Ort vermint und die Menschen aus den Häusern getrieben. Nur zwei Gebäude, eines davon die Kirche, sind stehen geblieben. Hundertelf Menschen aus Pieve di Santo Stefano sind in diesen Tagen gestorben.
Doch im Museum geht es nicht um die furchtbaren Kriegstage
Was ich noch gelesen habe: Dieses Städtchen nennt sich auch „die Stadt des Tagebuchs“ und es gibt dort „il piccolo museo del diario“, „das kleine Museum der Tagebücher“. Ich habe natürlich erstmal vermutet, dass es da um die furchtbaren Tage im Sommer 1944 ginge, die dort erinnert werden. Doch falsch gedacht.
Zeitzeugnisse verwoben mit der eigenen Geschichte
Obwohl: Diese Stadt, in der es so wenig steinerne Erinnerung gibt, war bestimmt besonders empfänglich für die Idee von Saverio Tutino. Dieser in Italien sehr bekannte Journalist wollte ein nationales Tagebuch-Archiv anlegen, zu dem jeder und jede etwas beisteuern könnte. Zeitzeugnisse verwoben mit der eigenen Geschichte. Über 10.000 Dokumente, vom einfachen Zettel bis zum dicken Wälzer, sind heute in diesem Archiv zugänglich. Und immer neue kommen dazu.
Lebensberichte aus ganz unterschiedlichen Perspektiven
Und einige davon kann man im Museum lesen, sich vorlesen lassen oder auch ansehen und bestaunen, Lebensberichte aus ganz unterschiedlichen Zeiten und Kontexten. Da sind zum Beispiel kleine Zettelchen, die im Krieg aus der Haft herausgeschmuggelt wurden für die Familie oder auch noch ältere Erinnerungen an politische Ereignisse und daneben der Bericht einer Frau über die erlittene häusliche Gewalt oder die Gedanken eines Jugendlichen über sein Erwachsenwerden.
Sie hat ihre Autobiographie auf ein großes Leintuch geschrieben
Schwer beeindruckt hat mich ein großes, sehr eng und sorgfältig beschriebenes Leintuch, das auch im Museum ausgestellt ist. Clelia Marchi, eine Bäuerin aus Norditalien, hat auf dieses Leintuch ihre Autobiografie geschrieben. Ihr Mann Anteo war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und Clelia hat gemerkt: Schreiben hilft ihr, die übergroße Trauer zu bewältigen. Eines Nachts, so wird es im Museum erzählt, hatte sie kein Papier mehr zu Hause und nahm das große Betttuch aus ihrer Aussteuer, das sie nun nicht mehr brauchte, um darauf ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Als Jahre später das Tagebuch-Archiv gegründet und um Tagebücher-Spenden gebeten wurde, da ist Clelia Marchi nach Pieve di Santo Stefano gereist und hat ihr Leintuch mitgebracht.
Der Besuch in dem kleinen Museum hat mich reich beschenkt
Das Museum ist wirklich ein kleines Museum, ganze vier Räume hat es. Aber es gibt viel zu entdecken und ich habe mich nach dem Museumsbesuch reich beschenkt gefühlt von so vielen anvertrauten Geschichten.
Fast so, wie im wahren Leben
Und es war fast so, wie wenn jemand „im wahren Leben“ seine Lebensgeschichte mit mir teilt. Da kenne ich das auch, diese Mischung von Dankbarkeit für das Vertrauen und diesem kostbaren Gefühl: Da weitet sich durch die geschenkte Lebenserfahrung auch meine eigene Sicht und Perspektive. Einfach großartig.