hr2 ZUSPRUCH
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Woernle, Hannah

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin in Alsbach/Bergstraße

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Wer ist der Größte?

Manchmal habe ich das Gefühl, mich mit anderen vergleichen zu müssen. Wie beim 10jährigen Klassentreffen. Ich hab‘ mich drauf gefreut, die eine oder den anderen aus der Schule wiederzusehen. In Erinnerungen schwelgen. Aber gleichzeitig war mir ein bisschen mulmig. Wie würde meine Bilanz der letzten 10 Jahre ausfallen?

Kann ich mit den anderen mithalten?

Meine Ausbildungszeit hat lang gedauert. Als Pfarrerin stehe ich mit Anfang 30 erst am Berufseinstieg. Würde ich da mithalten können, wenn die anderen von ihren beruflichen Erfahrungen erzählen? Oder von perfekten kleinen Familien? Ist es schon so weit, dass ich als kinderlose Frau unangenehme Fragen gestellt bekomme?

Was denken die anderen von mir?

Wer von uns hat es wohl am weitesten gebracht in den letzten 10 Jahren? Diese Fragen haben meine Vorfreude ausgebremst. Obwohl ich weiß, dass das Vergleichen niemandem etwas bringt. Manchmal kann ich trotzdem nicht anders und frage mich: Was denken die anderen von mir? Wie mache ich einen möglichst guten Eindruck?

Das Problem verschwindet auch nicht mit viel mehr Lebenserfahrung. Mein Opa hatte in derselben Woche wie ich Klassentreffen. Bei ihm liegt die Schulzeit schon 65 Jahre zurück. Er muss sich nicht mehr in punkto Karriereleiter vergleichen. Auch die Familiengründung ist lange abgeschlossen. Doch auch er hat sich gefragt: Wer hat sich wohl am besten gehalten? Und kann ich mich da mit meinem Rollator sehen lassen? Mein Opa hat gleich mehrere Enkelkinder. Aber ich kenne andere in seinem Alter, die nicht viel Familie haben.

"Im Himmelreich ist der der Größte, der sich klein macht wie ein Kind."

Es gibt eine Geschichte in der Bibel dazu. Wer von uns ist der Größte? Das fragen die Freunde, die Jesus begleiten. Jesus beantwortet die Frage nicht. Er durchbricht das Vergleichen. Er sagt: „Im Himmelreich ist der der Größte, der sich klein macht wie ein Kind.“ (Matthäus 18,4) Ich soll also gerade nicht versuchen, mich groß zu machen. Sondern zu dem stehen, was sich klein und unvollständig anfühlt.

Ich finde das gar nicht so leicht. Doch ich merke: Wenn‘s mir gelingt, dann tut mir das gut. Und den anderen auch. Weil es möglich wird, offen zu reden, ohne sich zu verstellen. Bei meinem Klassentreffen gab es so einen Moment, als eine sagte: „Wisst ihr was? Ich war richtig nervös, euch heute zu treffen!“

Es war ein schöner Abend

Das war ein echter Eisbrecher. Weil wir gemerkt haben: Wir hatten alle die gleichen Zweifel vor dem Treffen. Für keinen waren die letzten 10 Jahre eine einzige Erfolgsgeschichte. Bei uns allen gab es Umwege. Und Träume, die wir aufgeben mussten. Auch davon erzählten wir. Und freuten uns umso mehr miteinander über das, was uns heute glücklich macht. Am Ende war es ein richtig schöner Abend. Vielleicht gerade, weil wir eine Frage nicht geklärt haben: Wer der oder die Größte unter uns ist.