hr2 ZUSPRUCH
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Kohl, Rüdiger

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Theologischer Referent der Stellvertretenden Kirchenpräsidentin der EKHN

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Kann man Zuversicht lernen?

Eine Frau aus meiner Kirchengemeinde ist gestorben. Ich nenne sie hier Charlotte Henning. 97 Jahre alt wurde sie. Ihre Tochter und ihr Enkel sind zum Trauergespräch gekommen. Ich frage die beiden: „An welche Eigenschaft Ihrer Mutter, Großmutter erinnern Sie sich besonders?“ Der Enkel überlegt nicht lange. Er sagt: „Ihre Zuversicht. Meine Oma hat sich nicht lange mit Sorgen aufgehalten. Sie hatte so ein Grundvertrauen in Gott und in das Leben.“

Ich selbst habe sie auch immer so erlebt und sie dafür bewundert. Ich wäre gerne zuversichtlicher. Ich denke oft: Das Glas ist halb leer. Und ich frage mich: Kann man Zuversicht lernen?

"Alles gehört zum Leben dazu ..."

Einer, der sich intensiv mit dieser Frage befasst, ist der Psychologe Jens Corssen. Er rät seinen Klientinnen und Klienten: „Nehmen Sie am besten die Haltung ein: Alles gehört zum Leben dazu, und ich habe mich entschlossen, daran teilzunehmen.“ Corssen meint: „Dann kann ich leichter den Lauf der Dinge bejahen. Wenn ich dankbar an das denke, was da ist und was mir das Leben schenkt, kann die Angst vor der Zukunft kleiner werden.“[1]

Ein Grundvertrauen in Gott und in das Leben

Charlotte Henning hat in meinen Augen so gelebt. Sie hat wertgeschätzt, was da ist. Ihr Glaube an Gott hat ihr dabei geholfen. Auch als sie im hohen Alter fast vollständig erblindet ist. Ihr Enkel erzählt: „Ich habe sie mit meinen Kindern oft im Pflegeheim besucht. Sie konnte ihre Urenkel nicht mehr sehen. Das hat ihr wehgetan. Aber sie hat sich an sie erinnert. An ihre Stimmen. Und selbst wenn eines der Kinder ihre Hand gestreichelt und nichts gesagt hat, wusste sie, wer das war. Oft hat sie gesagt: Ich bin Gott dankbar, dass es euch gibt.“

Eine positive Lebenshaltung trainieren mit einer Zuversichts-Übung

Charlotte Henning hat sich an das Positive in ihrem Leben gehalten. Das hat ihr Kraft gegeben. Auch für die Dürrezeiten im Leben. Diese Lebenshaltung ist nicht einfach. Aber man sie trainieren. Dafür hat sich der Psychologe Jens Corssen eine Zuversichts-Übung ausgedacht. Die geht so: Man stellt sich abends beim Einschlafen mit geschlossenen Augen einen Obstbaum vor, der im Januar wie tot aussieht. Dann lässt man in Gedanken den Frühling kommen. Man sieht, wie sich an den kahlen Ästen die Knospen zeigen und die ersten Blüten.

Der Frühling kommt immer wieder

Es folgt der Sommer mit seiner Fülle. Das Grün, die Früchte am Baum. Und dann der Herbst mit dem reifen Obst, Birne oder Apfel. Man sieht vor dem inneren Auge, wie die Blätter auf den Boden fallen und wieder zur Erde werden. Der Baum ist kahl wie am Anfang. Aber man weiß: Der Frühling kommt wieder!

Das Ziel: zuversichtlich leben

Der Psychologe Corssen sagt: Wenn man diese Zuversichts-Übung jeden Abend macht, dann nimmt das Unterbewusstsein die Bilder auf. „Dann färben wir unser Unterbewusstsein mit diesen Bildern, die Zuversicht vermitteln.“ Ich werde diese Übung versuchen. Vielleicht schaffe ich es, nicht so sehr auf das zu schauen, was fehlt. Sondern auf das, was Gott mir schenkt. Mein Ziel ist: zuversichtlich leben.

 


[1] Publik-Forum EXTRA, Heft 6/2023: Was mir wertvoll ist: Zuversicht, Oberursel 2023.