Die Augen ruhen lassen
"Wir haben verlernt, die Augen auf etwas ruhen zu lassen. Deshalb erkennen wir so wenig!" Diese Schlussfolgerung stammt von dem französischen Schriftsteller Jean Giono.
Eine interessante Einschätzung, wie ich finde. "Wir haben verlernt, die Augen auf etwas ruhen zu lassen. Deshalb erkennen wir so wenig!" Als ich dieses Zitat zum ersten Mal gelesen habe, hat es mich stark zum Nachdenken gebracht. Schließlich streben ja viele Menschen nach Erkenntnis – oft genug ohne Erfolg dabei zu haben. Ich denke dabei natürlich an Goethes Faust, der sich bei seinem Streben nach Erkenntnis fast umbringt. Fausts Ziel ist es, zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wenn ich den Satz von Jean Giono auf mich wirken lasse, dann gehe ich der Frage nach, was es wohl bedeutet: Die Augen auf etwas ruhen zu lassen. Wahrscheinlich: Etwas bewusst in den Blick nehmen. Genauer und länger hinzusehen, damit ich Zusammenhänge wirklich erfassen – ja gar begreifen kann. Ich muss gestehen: Die Augen auf etwas ruhen zu lassen, fällt mir persönlich schwer. So vieles passiert teilweise auch gleichzeitig. Ständig werde ich gefordert oder lasse ich mich fordern. Blicke fallen dabei oft nur kurz aus. Wie oft sage auch ich den Satz: "Ich habe keine Zeit!" Lange also mit einem Blick auf etwas zu verweilen, kommt mir selten in den Sinn.
Dabei wäre es wichtig, sich Zeit zu nehmen, um wirklich hinter die Dinge zu sehen, um etwas erkennen zu können. In der Ausbildung von Lehrern wird heute vor allem Förderung der Analysekompetenz verlangt. Die Schülerinnen und Schüler sollen im Unterricht befähigt werden, Texte zu analysieren, zu untersuchen. Darauf wird bei der Planung von Unterricht großen Wert gelegt. Und das ist sicher auch richtig und zielführend so. Aber wie kann eine Analyse gut erfolgen? Sicher ist eine Bedingung dazu, sich Zeit zu nehmen, um etwas ergründen zu können. Um in der Lage zu sein, Zusammenhänge beleuchten zu können, benötigt man Ruhe und Sorgfalt.
Als Christen glauben wir daran, dass Gott uns kennt. "Er hat mich bei meinem Namen gerufen. Ich bin sein." (Jesaja 43) Er hat uns also so gewollt, wie wir sind. Mit unseren Stärken und mit unseren Schwächen.
Gott begleitet meinen Weg. Sicher nicht, wie es das Gottesbild in grauer Vorzeit war: Gott sieht dir zu. Er sieht alles, was du tust und maßregelt dich sofort, wenn es dazu nötig ist.
Ich glaube, dass ich auf Gott vertrauen kann und dass er im übertragenen Sinne seine Augen auf mir ruhen lässt. Das gibt mir Halt und Zuversicht für mein Leben. Ich dann, wenn ich nicht alles erkenne oder erkennen kann. Aber genau an dieser Stelle setzt das Vertrauen ein – mein Vertrauen in Gott.