Den anderen wahrnehmen
"Sie sind der erste Fahrgast, der mir heute einen 'Guten Tag' wünscht!", freut sich eine Zugbegleiterin in einem Regionalexpress. Und weil sich die Schaffnerin so sehr über diesen Gruß freut, schenkt sie dem freundlichen Fahrgast spontan einen Kaugummi. Diese Begebenheit, die ich einige Sitzreihen vor mir auf einer Zugfahrt mitbekomme, gibt mir zu denken. Kann das wirklich sein? Keiner der Fahrgäste, deren Fahrkarte die Zugbegleiterin an diesem Tag kontrollierte, hat sie gegrüßt? Vielleicht aus Unachtsamkeit? Alltagstrott! Manche Menschen sind morgens bei der Zugfahrt noch müde. Andere sind mit dem Handy beschäftigt. Wieder andere lesen Zeitung oder arbeiten mit ihrem Laptop. Die Fahrkarte wird hingehalten - aber wer der Mensch ist, der sie kontrolliert, bekommen die Fahrgäste gar nicht mit. Unwichtig - gleichgültig!?
Ich horche bei dieser kurzen Begebenheit auf. Ich komme ins Nachdenken. Beim nächsten Mal möchte ich stärker darauf achten, dass ich den anderen Menschen bewusst in den Blick nehme, dem ich begegne. Ich möchte darauf achten - achtsam sein. Umgekehrt möchte ich ja auch nicht, dass mein Gegenüber mich einfach übersieht oder sogar ignoriert. Eine ziemlich "kalte" Gesellschaft wäre das - wenn Menschen einander nicht mehr bewusst wahrnehmen - finden Sie nicht auch?
"Was ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan!" (Mt 25, 31-46) An diesen Satz, den Jesus zu seinen Freunden sagt, muss ich dabei denken. Es gibt kein "wichtig" und "unwichtig", was meine Mitmenschen angeht. Alle Menschen sind wertvoll. Als Christen glauben wir: Gott hat uns ins Dasein gerufen. "Gott schuf den Menschen, als Abbild Gottes schuf er ihn", so heißt es in der Schöpfungsgeschichte. Als "Abbild Gottes" - das bedeutet in der Konsequenz: Wir sind also Gott ebenbürtig. In uns ist Gott. Und weil das so ist, besitzt jeder Mensch eine ganz besondere Würde. Jeder Mensch ist wertvoll.
Wir Menschen sind aufeinander angewiesen, wir brauchen einander. Was kann ich als Einzelner allein ausrichten? Immer wieder wird mir vor Augen geführt, dass ich Hilfe und Unterstützung von anderen Menschen benötige. Allein bin ich verloren. Das muss keine deprimierende Selbstreflexion sein. Im Gegenteil: Für mich ist es sehr heilsam, wenn ich merke: Ich benötige Unterstützung. Hier sind mir Grenzen gesetzt. Dann merke ich - gut, dass ich nicht allein auf der Welt bin.
Natürlich geht dieser Leitgedanke auch in meinem Alltagsleben manchmal unter. Es kommt vor, dass ich unachtsam bin. Aber eigentlich sollte ich mir dies immer wieder bewusst machen: Jeder Mensch ist wertvoll und verdient daher meine Aufmerksamkeit. Nicht "aufgesetzt" - sondern ganz natürlich im alltäglichen Umgang miteinander. Ich nehme mir dies vor - und nicht nur bei der nächsten Zugfahrt.