Opfer - manche sind falsch, andere sind nötig
Irgendwann begann es damals bei mir in der 10. Klasse durchzusickern: Du, ich habe heute Morgen unsere Deutschlehrerin mit einem fremden Mann zusammen in einem Auto sitzen sehen….
Frau Müller, ich habe ihren Namen geändert, war unsere Religions- und Deutschlehrerin, mit einem angehenden Pfarrer verheiratet. Jede aus unserer Klasse schwärmte für Frau Müller: Sie war jung und progressiv und ein wenig romantisch veranlagt. Genau die Persönlichkeit, nach der wir uns auf dieser konservativen Mädchenschule sehnten. Dann war es nicht mehr zu übersehen, Frau Müller war schwanger. Wir fanden schnell heraus: Das Kind war nicht von dem Mann, dem sie die Treue gelobt hatte. Kurz darauf verließ sie die Schule. Ihre Spur verlief sich.
Viele Jahre später erzählte mir eine Freundin, dass sie sie wieder gesehen hat, in einem kleinen Dorf in Süddeutschland. Sie hatte Kinder. Aber das erste Kind, das sie mit ihrem zweiten Mann verbunden hatte, war als Kleinkind bei einem Unfall gestorben. Frau Müller hat dann gegenüber meiner Freundin ganz vorsichtig formuliert: Für mich war der Tod dieses Kindes eine Art Opfer, das ich bringen musste, weil ich jemand anderen sehr verletzt hatte.
Diese Worte haben mich lange beschäftigt: Was für ein archaischer Gedanke aus dem Mund dieser emanzipierten Frau! Opfer, das sind die Rituale, die die Götter brauchen. Die sie besänftigen. Besonders schrecklich, sich ein Kind als ein solches Opfer vorzustellen. Diese Praxis gab es sogar noch in der Antike durchaus. Aber solche und andere Opfer sind nicht die Rituale einer aufgeklärten Welt. Götter, die Opfer fordern oder ein Gott, der Opfer als Wiedergutmachung fordert, paßt nicht in unser Gottesbild. Zu Recht. Es ist eine schreckliche Vorstellung, dass ein unschuldiges Kind bei einem Unfall sterben muss, damit die Mutter ein Schuldgefühl loswird. Auch wenn sie es so empfindet – es ist nicht das, was Gott will.
Und doch bleibt die Fragen offen: Wie können Fehler wieder gut gemacht werden, zerbrochene Beziehungen versöhnt werden? Wie erlangen seelisch und körperlich verletzte Menschen Heilung? In vielen Scheidungs- und Trennungsprozessen bleiben seelische Narben zurück. Verletzungen im Krieg oder durch Gewalt rufen nach geregelten Prozessen ziviler und juristischer Aufarbeitung. Menschen fordern von Menschen Klärungen und Wiedergutmachung – ja letztlich „Opfer“. Das ist die Grundlage allen sozialen Miteinanders.
Gott braucht keine Opfer, um seinen Gerechtigkeitssinn zu befriedigen. Sondern Menschen brauchen Menschen, die Opfer für andere bringen: Menschen, die ihren Stolz opfern, um ihre Fehler einzugestehen, die ihre Zeit opfern, um fürsorgend für andere da zu sein oder die einen Teil ihres Wohlstandes opfern, um zerstörte Landschaften wieder aufzubauen. Solche Opfer können heilsam sein.