Besser ein Licht anzünden, als über Finsternis klagen
„Es ist besser, ein Licht anzuzünden, als über die Finsternis zu klagen.“ Dieser Satz steht auf einem Bild, das mir jemand geschenkt hat. Ich habe es an die Wand über meinen Schreibtisch gehängt. Auf dem Bild ist eine Kerze zu sehen, die gerade jemand ansteckt. Das brennende Streichholz zwischen Daumen und Zeigefinger entflammt den Docht der vierten Adventskerze und verbreitet einen warmen Schein.
Kerzenlicht ist anders als Neonlicht, Glühbirne oder LED. Der Kerzenschimmer verbreitet Wärme. Die Flamme ist feinfühlig. Sie bewegt sich durch den Atem eines Menschen und im Luftzug eines Zimmers. Sie gibt im Wind nach, legt sich zur Seite, wenn er stärker wird. Manchmal muss man sie sogar mit der Hand schützen, damit der Wind sie nicht ausbläst. So ein Kerzenlicht ist warm, lebendig, auch ein bisschen geheimnisvoll und anrührend. Das empfinde ich ganz besonders beim Anblick der Advents- und Weihnachtskerzen.
Es ist besser, ein Licht anzuzünden, als über die Finsternis zu klagen. Mir leuchtet das ein. Wie schnell lasse ich mich zum Klagen verführen über das, was nicht gut oder dunkel ist. Die Wehklage ist uns vertraut – Flüchtlingskrise, Terror, Ungerechtigkeit. Doch nur die Finsternis zu beklagen, hilft nicht viel. Ein Licht anzuzünden, und sei es auch nur ein kleines, ist besser. Zum Beispiel: Einem traurigen Menschen ein tröstendes Wort sagen, einem Flüchtling ein Freund werden, ihm Arbeit oder Wohnung beschaffen, seinen Kindern Kleidung und Spielzeug besorgen. In diesen Tagen einen einsamen Menschen besuchen ist wie wenn eine Kerze aufleuchtet im dunklen Zimmer.
Eine brennende Kerze kann die Finsternis nicht ganz vertreiben. Doch ihr warmer Schein zeigt: Es gibt das Licht in der Dunkelheit. Die Hoffnung auf ein helles Leben ist noch nicht erloschen.
Bei uns im Dorf gibt es wie in vielen anderen Orten einen schönen Brauch. Er heißt „lebendiger Adventskalender“. Da gehen Erwachsene und Kinder bei Einbruch der Dunkelheit durch das Dorf. Sie versammeln sich an jedem Abend vom ersten Advent bis zum dreiundzwanzigsten Dezember vor einem anderen Haus. Ein Fenster ist adventlich geschmückt. Kerzen erleuchten es, verbreiten Licht in der Finsternis. Wir singen Weihnachtslieder, jemand liest ein Gedicht oder erzählt eine Geschichte.
Angefangen hat das Ganze vor Jahren. In der Konfirmandengruppe war das Thema Advent: Die Ankunft Gottes in der Welt; Licht in der Finsternis. „Eigentlich müsste man zu Menschen, die traurig oder einsam sind, jetzt in der Adventszeit eine brennende Kerze bringen“, hat ein Mädchen gesagt. Gesagt, getan. Wir gehen dahin, wo ein Mensch alleine ist, wo jemand traurig oder krank ist und bringen ihm ein Adventslicht. Am Anfang waren wir wenige. Dann wurden es jedes Jahr mehr, die mitmachten. Inzwischen sind es viele und das ist schön.
Heute Abend ist das Haus meiner Familie die Station für den lebendigen Adventskalender. Da werden Menschen in unserem Hof stehen, Kerzen anzünden, singen und erzählen, Plätzchen essen und etwas Heißes trinken. Und ich werde das Bild zeigen mit dem Spruch: Es ist besser, ein Licht anzuzünden, als über die Finsternis zu klagen.