Wen zu lieben schwer fällt
Das Esszimmer lag in der Mitte. Rechts war die Tür ins Zimmer der Oma, links ins Zimmer des Opas. Die beiden waren nie streng, nur der Mittagsschlaf war ihnen heilig. Auch wenn der Enkel da war. Nach dem Essen verschwanden sie in ihre Betten und ich saß in der Mitte. Mucksmäuschenstill musste ich sein, über eine Stunden lang. Was macht ein Achtjähriger in dieser Zeit?
Er sitzt da und langweilt sich, schaut auf die Uhr und im Zimmer herum. Bis heute kenne ich das Zimmer auswendig, die Schränke, das Radio, das Regal mit den Büchern. Wie heute sehe ich auch die fünf dicken, roten Bände, in Leder gebunden, hinter Glas. Auf den Büchern in goldenen Buchstaben der Name Arthur Schopenhauer (1788 – 1860). Oma und Opa hatten nicht viele Bücher, aber wertvolle. Als Kind habe ich nie darin gelesen, höchstens geblättert vor Langeweile. Eingeprägt aber haben sie sich. Als ich mit dreißig wieder den Namen Schopenhauer las, fiel mir sofort das Esszimmer ein und die Bände in rotem Leder mit Goldbuchstaben. Man sagt ja, dass Enkel manchmal die Sitten des Großvaters übernehmen. Bei Schopenhauer war das so. Ich wurde neugierig und las und las. Was ich nicht verstand, las ich nochmal oder blätterte weiter. Ob mein Opa alles verstanden hatte, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass der große Philosoph Arthur Schopenhauer auch nur ein Mensch war, manchmal ein trauriger, häufiger ein fieser. Er hatte Streit mit fast allen: der Mutter, der Schwester, Nachbarn und Kollegen. Er war voll Sehnsucht nach Wärme und Liebe. Bekommen aber hat er sie nicht, gegeben erst Recht nicht. Und immer seine Angst ums Geld.
Mitten im Wirrwarr seiner Gefühle liegt ein kleines Goldstück aus Buchstaben. Auch wer falsch lebt, kann richtig denken. Obwohl er Liebe nie erlebt und nie gegeben hat, wusste er, was Liebe sein soll. Und schreibt: Alle Liebe ist Mitleid. Nicht herablassend, nicht mitleidig, nein. Mitleid ist das tiefe Gefühl, dass jeder Mensch nur Mensch ist und bedürftig. Auch wer sich vor anderen aufspielt, wichtig tut, großspurig daherkommt oder Ellbogen benutzt - er oder sie bleibt ein Mensch, der Liebe bedürftig wie dürres Land, das auf Regen wartet. Je lauter der Auftritt, desto bedürftiger der Mensch. Je aufgeblasener die Haltung, desto liebloser das Leben. Und desto heftiger die Sehnsucht, die dauernd sagt: Gefalle ich euch? Liebt mich doch; findet mich gut. Die zu lieben fällt schwer, ich weiß. Trotzdem ist nichts nötig. Wenn etwas einen Menschen von Großspurigkeit befreit, dann ist es Liebe. Als freundliche Mahnung. Oder als leiser Hinweis: Du musst mir nichts beweisen; ich achte dich auch so. Weil das schwer ist und mir oft nicht gelingt, muss ich Gott um Hilfe bitten. Ich bin auch nur ein Mensch. Seine Geduld ist größer.