Von der Sicht der Dinge
Er ist vierzig jahre alt und seines Lebens überdrüssig, der Landedelmann Michel. Alles hat er gehabt: eine großartige Ausbildung mit Erlernen des Weinbaus. Reiten und fechten kann er. Jahrelang war er Bürgermeister. Ehemann und Vater bleibt er. Aber: so soll es nicht weitergehen. Weil er keine Geldsorgen hat, zieht er mit vierzig Jahren in den Turm seines Hauses. Schlafkammer, Bibliothek, ein herrlicher Ausblick aus allen Fenstern - aber vor allem: Ruhe. Der Landedelmann Michel de Montaigne (1533 – 1592) will Ruhe; will lesen, nachdenken und schreiben. Heraus kommen kleine Aufsätze. Darin die Erkenntnis, die wir uns oft vorsagen sollten: Wir können, schreibt Michel, wir können unserer eigenen Sichtweise nie entkommen.
Leider ist das so. Oder Gott sei Dank. Was wir sagen und tun, wie immer wir die Dinge des Lebens beurteilen: Wir können unserer eigenen Sichtweise nie entkommen. Was ich hoffe, erfahren habe oder falsch gemacht, bestimmt mein Fühlen und Sehen. Was ich einem anderen Menschen vorwerfe, ist meine Sicht der Dinge. Nur meine Sicht, betone ich. Es sind immer meine Sinne, die sehen und beurteilen. Der andere oder die andere sehen das anders sehen und dürfen das auch – sie haben ja eigene Sinne, die wahrnehmen. Andere haben ihre Erlebnisse, Fehler und Hoffnungen. Zu Recht.
Wir können unserer eigenen Sichtweise nie entkommen. Diese Erkenntnis macht nichts im Leben leichter, weiß Gott nicht. Aber sie macht das Leben aufrichtiger. Und behutsamer. Wenn ich an manchen Streit denke und daran, dass jeder Mensch seine eigene Sichtweise haben darf, werde ich vorsichtiger mit einem Urteil. Wenn ich an Auseinandersetzungen Erwachsener mit Kindern oder Enkeln denke, die alle ihre Sichtweise haben und der auch nicht entkommen, werde ich behutsamer mit Vorwürfen. Entweder verbiete ich sie mir ganz oder werde leiser, wenn ich sie ausspreche. Die Welt ist groß, mein Blickwinkel ist eher klein. Oft erkenne ich zu wenig, um wirklich urteilen oder gar verurteilen zu können. Natürlich gibt es Dinge, die klar sind und nicht sein dürfen; die muss man benennen. Trotzdem bleibt aber die Erkenntnis: Was immer ich sehe, tue und beurteile – es bleibt meine Sicht der Dinge. Ich muss nicht alles bewerten. Ich darf fragen und nicht wissen. Meistens hilft mir Ruhe dabei. Wir können nicht alle in einen Turm ziehen und dort nachdenken, aber etwas Ruhe können wir uns gönnen vor einem Urteil oder Vorwurf. Besser ist, ich lasse in meinen Gedanken eine offene Tür für das, was andere wahrnehmen. Dazu ein offenes Ohr, damit Gott zu Wort kommt mit seiner Sicht der Dinge.