Sehen, was möglich ist
Es regnet leicht, als sich Volkers Leben zu ändern beginnt. Er schlendert durch die große Innenstadt, vorbei an bunten Schaufenstern. In der Hand hält Volker eine Tüte mit Geschenken. Nichts Großes, aber viel Wertvolles für die Eltern und seine Freundin. Von weitem sieht Volker beim Schlendern eine Bank unter einem Baum. Darauf liegt einer. Ziemlich dick ist der, scheinbar betrunken. Denn viele leere Flaschen stehen unter der Bank. Volker bleibt stehen und ärgert sich über den Anblick, obwohl sich im nächsten Moment sein Leben ändern wird. Er ärgert sich über den auf der Bank, weil er daran denkt und schnell nachrechnet, was solche Leute die Allgemeinheit kosten. Also auch ihn, seine Eltern, seine Freundin.
Jetzt nähert sich ein Polizist dem Obdachlosen. Der wird einschreiten, denkt Volker befriedigt. Der Polizist bleibt vor dem Schlafenden stehen und schaut sich ein wenig um, als sei er besorgt. Volker sieht zu und hat noch keine Ahnung, wie sich gleich sein Leben ändert. Von Grund auf. Für immer. Der Polizist hat seinen nassen Mantel ausgezogen, dann seine Jacke. Schließlich noch seinen Pullover oder was das helle Stück sonst sein soll. Dann zieht der Polizist Jacke und Mantel wieder an. Alles geschieht in einer gewissen Hast. Volker sieht das und versteht nichts. Noch nichts. Andere Leute sehen nichts und laufen nur vorbei. Volker beobachtet, wie der Polizist das helle Ding, das er ausgezogen hat, zusammenfaltet zu einem Klümpchen. Er hat immer noch kein Wort zu dem Schlafenden gesprochen, geschweige denn ihn weggeschickt. Darauf wartet Volker. Vergebens. Der Polizist nimmt sein zusammengefaltetes Etwas, hebt vorsichtig den Kopf des Betrunkenen an und legt es unter dessen Kopf. Wie ein Kopfkissen. Dann schaut er sich unruhig nochmal nach allen Seiten um und geht schnell seiner Wege.
Volker steht ganz still. Ist aber innerlich wie vom Donner gerührt. Seine Gedanken drehen sich so schnell, dass sie auf der Stelle stehen. Das gibt es also, sagt Volker leise vor sich hin. So etwas gibt es also. Und ist ein wenig verlegen ohne zu wissen, warum. Gut, dass ihn niemand sieht. Wie angewurzelt steht er mit leicht offenem Mund und schaut auf die Bank mit dem Schlafenden und seinem weichen Kopfkissen. Das gibt es, sagt Volker immer nur vor sich hin. In der Welt maßloser Geschäfte, des Berechnens von allem, der Rücksichtslosigkeiten, Kleinkriege und Bitterkeiten. In diesem Augenblick ändert sich sein Leben. Von Grund auf, weiß Volker bis heute. Denn gerade hat er etwas gesehen, was möglich ist in der Welt: einfach nur Gnade.