Wenn einem das Leben verrutscht
Die alte Dame wirkt verzweifelt. Sie ist neunzig Jahre alt, gut zu Fuß und heute viel zu spät beim Frühstück. Das gibt es im Heim ab acht Uhr. Jetzt ist viertes vor neun neun. Auf dem Flur sagt sie laut zu mir: Ich bin völlig durcheinander. Meine Strickjacke ist weg. Dabei hat ihr Gesicht einen trostlosen Ausdruck. Ich habe schon dreimal meinen Schrank durchsucht, sagt sie und klingt wie eine Kriminalbeamtin. Eine schöne, blaue Strickjacke, luftig gestrickt. Wissen Sie, sagt sie, früher habe ich anderen immer ihre Sachen geordnet. Heute bin ich selber schlampig geworden. Es ist zum Verzweifeln, schimpft sie wieder. Ich und schlampig…
In diesem Moment lerne ich etwas. Ich lerne, was es heißt, barmherzig zu sein. Ich muss diese Not ganz ernst nehmen. Für mich klingt es nach einem kleinen Vergessen, für die alte Dame ist es eine große Not. Sie hat ja nicht einfach ihre Jacke verlegt. Sie fürchtet, dass ihr die Welt verrutscht. Das ist schlimm. Ich darf das nicht klein reden oder wegreden. Darum bleibe ich stehen und frage, wo die Jacke denn wohl sein könnte. Vielleicht irgendwo im Haus, sagt sie, über einen Stuhl gehängt, als es mir zu warm wurde. Ich verspreche, in jedem Stockwerk des Hauses zu suchen. Und wenn nicht, sage ich, kaufe ich Ihnen eine neue, bestimmt. Ich meine es ernst. Sie muss lachen. Das fehlte mir noch, sagt sie. Auch das gehört zum barmherzig sein. Lachen können, für einen Moment wenigstens. Etwas Abstand bringen zwischen sich und die verrutschte Welt. Herr bleiben über die Dinge, auch wenn sie schief gehen. Ich mach mich auf, frage in allen Stockwerken des Hauses. Die alte Dame frühstückt derweil. Geteilte Not wird kleiner. Man kann dann wenigstens essen.
Eine Stunde später gehe ich wieder zu ihr. Sie steht in ihrem Zimmer, die Tür ist offen. Ich habe im Haus nichts gefunden, bin deswegen auch nicht mehr so heiter. Dafür ist sie es. Sie hat ihre Jacke gefunden. Im Schrank war sie, ganz hinten, fein zusammen gelegt. Das mache ich sonst nie, sagt sie. Eigentlich hänge ich sie immer auf einen Bügel. Was ist nur in mich alte Frau gefahren, die Jacke plötzlich zusammenzulegen. Erleichtert schüttelt sie den Kopf über sich. Da merke ich, was Barmherzigkeit auch noch sein darf: Mitleid mit sich selbst. Das ist eine Kunst. Sich nicht so hart machen oder gar verbittern, wenn das Leben einem mal verrutscht. Abstand halten zu dem, was schief geht. Mehr luftig bleiben dem Leben gegenüber, wie eine Strickjacke. Dann findet Gott leichter seinen Weg zu mir.