hr2 ZUSPRUCH
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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Plötzliche Freudentränen

Plötzliche Freudentränen

Das Büro ist grau und leer. Mitten drin sitzt Herr Schmidt. Auch er ist grau und leer. Er schaut auf die Uhr. Gleich beginnt sein Feierabend. Sein letzter Feierabend. Morgen beginnt seine Rente. Pünktlich um 17.00 Uhr steht er auf, geht zum Abschiedsfest und fährt dann mit seiner Frau nach Hause. Das alles erzählt der Film „About Schmidt“. Ich wünschte, alle könnten diesen wunderbaren Film sehen. Herr Schmidt hat Angst vor dem Ruhestand, vor der Leere. Die Leere fürchten viele Menschen. Was soll Herr Schmidt jetzt tun? Wer braucht ihn noch? Und kurz darauf stirbt auch noch seine Frau. Er ist allein. Welchen Sinn hat sein Leben jetzt noch?

Zufällig sieht Herr Schmidt im Fernsehen eine Sendung über Kinder in Afrika. Sie brauchen Hilfe. Herr Schmidt braucht auch Hilfe. Für 20 Euro im Monat übernimmt er die Patenschaft für einen sechsjährigen Jungen. Dem schreibt er jetzt Briefe. Lieber Ndugu, schreibt er, man muss sich an dem freuen, was man hat, solange es noch da ist. Aber Herr Schmidt freut sich gar nicht. Im Gegenteil. Er setzt sich in sein großes Wohnmobil und fährt quer durch Amerika. Erst sucht er das Haus seiner Kindheit. Das ist verschwunden. Dann besucht er seine alte Schule. Da hört ihm niemand zu. Schließlich fährt er zu seiner einzigen Tochter. Die will heiraten. Herr Schmidt hält nichts von dem Mann, den seine Tochter heiraten will. Aber er kann nichts ändern. Überhaupt nichts ändern. Lieber Ndugu, schreibt er wieder an sein unbekanntes Pflegekind in Afrika. Ihm allein kann Herr Schmidt beichten, dass er von niemandem mehr gebraucht wird. Alle machen, was sie wollen. Die Welt geht ihren Gang. Die Welt braucht Herrn Schmidt nicht. Das schreibt er, während er durch Amerika fährt und sich leer vorkommt. Das Pflegekind ist sein letzter Halt. Hier kann er sagen, was er wirklich fühlt und denkt. Herr Schmidt hält sich für unbedeutend, für überflüssig. Das Beste wäre, etwas zu verändern, schreibt Herr Schmidt. Dann schreibt er: Was auf der Welt ist besser, weil es mich gibt? So fragt sich Herr Schmidt und so fragt er sein Pflegekind, das noch gar nicht lesen kann.

Nach vielen Wochen unterwegs kommt Herr Schmidt wieder nach Hause. Keiner wartet auf ihn. In seiner Post ist viel Reklame. Und noch ein Luftpostbrief. Der kommt aus Afrika. Eine Nonne hat ihn geschrieben. Herr Schmidt öffnet den Brief, liest ein paar Sätze über sein Pflegekind. Die Nonne schreibt, dass sich das Kind über jeden Brief von Herrn Schmidt freut. Weil es nicht schreiben kann, habe es ein Bild gemalt für Herrn Schmidt. Der starrt auf das Bild, das Ndugu nur für ihn gemalt hat. Ein großer Mann ist auf dem Bild. An seiner Hand hält er ein kleines Kind. Herr Schmidt schaut lange auf das Bild. Dann, auf einmal, laufen ihm viele Tränen die Backe runter. Freudentränen. Einer, wenigstens einer, der ihn braucht. Gott sei Dank. Wie schön das ist.