Grenzen
Anfang Mai bin ich zwischen Fritzlar und Bad Wildungen auf dem Bonifatiusweg unterwegs gewesen. Von Bonifatius konnte ich auf diesem Streckenabschnitt weniger entdecken. Dafür aber waren Grenzsteine, immer einer rechts des Weges und einer links des Weges zu finden. Es waren aufwändig gestaltete Steine. Auf der Westseite waren regelmäßig ein achtzackiger Stern und dann die Jahreszahl 1739 zu sehen. Ab hier begann das ehemalige Fürstentum Waldeck. Auf der Ostseite fanden sich ein Löwe und eine Nummer. Das ist die Seite, ab der der das Kurfürstentum Hessen-Kassel begann. So war es im Jahr 1739.
Natürlich spielt das heute keine Rolle mehr. Dennoch stehen die Steine da, meist im Schatten, und zeigen an, wie nah die Grenzen einmal waren. Lebte ich vor 274 Jahren, hätte ich vom Pfarrhaus nach zwei Stunden Fußmarsch die Grenzen meines Landes bereits überschritten. Nach Westen hätte ich übrigens nur wenig länger laufen müssen, aber das ist eine andere Geschichte. Die vielen Landesgrenzen in Deutschland waren bestimmt ärgerlich und hinderlich. Andererseits, gesetzt den Fall, ein Waldecker Bürger hätte aus gutem Grund Abstand von seiner Obrigkeit gesucht, wäre Hessen schnell erreicht gewesen. Und ob in Hessen die Obrigkeit in gleicher Weise gewillt gewesen wäre, den betreffenden Bürger zu verfolgen, sei dahin gestellt. Umgekehrt kann es natürlich genauso gewesen sein, dass ein hessischer Bürger jenseits der Grenze Ruhe vor seiner Herrschaft gefunden hat.
Grenzen können auch etwas Gutes haben. Innerhalb der Landesgrenzen gelten die Gesetze. Jenseits gelten sie nicht mehr, oder nicht in gleicher Weise. Insofern, denke ich, ist es doch gut, dass mein Gott allen Dingen, auch dem Leben, eine Grenze gesetzt hat. Denn wäre es wirklich erstrebenswert, dass die alten Geschichten, das alte Unrecht, die alten Schmerzen ewig gelten sollen? „Lehre mich bedenken, dass meine Leben ein Ziel hat“, heißt es in Psalm 39 (Vers 5). Vielleicht muss man das nicht immer im schweren Ton sagen. Vielleicht sagt es sich ganz leicht, wenn das Steinmal erreicht ist, und das Land jenseits weit und offen ist.