Das neue Lied
„Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“ – dieser Vers stammt aus Psalm 98. Wenn ich ihn höre, summe ich innerlich gleich die Melodie mit. Als Grundschülerin habe ich dieses Lied im Kinderchor meiner Gemeinde kennengelernt. Seitdem klingen diese Psalmworte in mir „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“. Mich erinnert dieses strahlende Lied an unseren langjährigen Organisten.
Er war ein begeisterter Anhänger des sogenannten „neuen geistlichen Liedgutes“, das in den sechziger und siebziger Jahren entstand. Mit seinen Chören brachte er einen ungewohnten Schwung in die steifen Gemeindegottesdienste. Als meisterhafter Orgelspieler sorgte er dafür, dass der Sonntagsgottesdienst voller Überraschung war. Ungewohnte Rhythmen und neue Texte verwirrten die singende Gemeinde. Ein traditioneller Choral verwandelte sich gegen Ende überraschend in Jazzstück. Als Konfirmandinnen warteten wir gespannt auf seine musikalischen Beigaben. Tief in meine Erinnerung hat sich sein Orgelspiel am Ende des Gottesdienstes eingegraben. Dann erklang die Orgel in ihrer ganzen Größe - überschäumend vor Leidenschaft und Lebenslust.
Unser Organist war blind. Für seine Chorproben benutzte er Partituren in Blindenschrift. Aber die meisten Lieder kannte er ohnehin auswendig. Die Musik war eben seine Welt. Mit Tönen malte er, was er mit seinen Augen nicht sehen konnte – was nur vor seinem “inneren” Auge bestand. Seine Welt war farbenfroh und leuchtend. Schräge Töne und Dissonanzen fing er in harmonischen Schlussakkorden auf. Unter seinen Händen entstand eine Welt, eine Welt, so wie sie in den Lobpsalmen der Bibel ausgemalt wird. Im Mittelpunkt standen nicht Schmerz und Tod, sondern Ordnung und Schönheit von Gott in die Welt gelegt. Alle sollen sich daran freuen!
Im Rückblick scheint es mir, als habe mir dieser Mann damals durch die Musik ein Bild dieser Welt ins Herz geprägt. Später habe ich natürlich auch dunkle Erfahrungen gemacht. Doch beim Singen wird auch heute noch dieses helle Bild in mir lebendig. Beim Singen spüre ich, dass Herz und Seele weit werden und Lebensatem in mich einströmt. Worte und Töne schaffen sich Raum in mir. Und dann wird das groß, was mein Verstand kaum fassen kann: Der Glaube daran, dass am Ende der Zeit ein harmonischer Schlussakkord stehen wird – ganz gewiss!