Verwandlung
Unser Bewusstsein verändert sich, und mit ihm die Sprache. Es ist noch nicht so lange her, da haben wir gelernt: Es gibt keine „Behinderten“, es gibt nur Menschen mit Behinderungen. Manche hielten das für Wortklauberei, aber der Unterschied ist schnell deutlich geworden: Wenn ich von „Behinderten“ spreche, liegt die Aufmerksamkeit auf der Behinderung. Der neue Begriff dagegen lässt mich den ganzen Menschen sehen. Als Person, die zwar mit besonderen Einschränkungen leben muss, aber daneben ein Mensch ist wie wir alle, mit Stärken und Begabungen.
Jetzt gehen wir wieder einen Schritt weiter. „Inklusion“ heißt das neue Thema, das gerade in der Bildungspolitik diskutiert wird. Wir hören: Es gibt keine Menschen mit Behinderungen, es gibt nur „Menschen mit besonderen Herausforderungen“. Diese Formulierung öffnet wieder eine neue Sicht. Da sind nicht mehr auf der einen Seite die „Behinderten“, die gefördert und in die Gemeinschaft der „Normalen“ integriert werden müssen. Sondern „Menschen mit besonderen Herausforderungen“ sind wir alle – jeder auf seine Weise. So entsteht ein anderes Bild von Gemeinschaft: Die Vielfalt der Verschiedenen, die alle mit ihren Einschränkungen und mit ihren Fähigkeiten leben und sich dabei gegenseitig unterstützen und ergänzen.
Wie das aussehen kann, habe ich vor kurzem erlebt. Ich hatte eingeladen zu einem Abend mit dem Thema „Verwandlungen“. Mit Singen und Tanzen sollte es darum gehen, die Osterbotschaft vom neuen Leben mit dem ganzen Körper zu spüren und im Tanz auszudrücken. Wir hatten alle Stühle aus der Kirche geräumt, so dass viel Platz war für Bewegung und Tanz. Einige Teilnehmerinnen saßen schon in der Runde, da ging die Tür auf und herein kam eine junge Frau im Rollstuhl. „O Gott!“ war mein erster Gedanke. „Wie soll das gehen? Was mache ich mit der?“- In diesem Moment war ich mindestens genauso wie sie ein „Mensch mit besonderen Herausforderungen“… „Wie mache ich jetzt meine Ansagen?“ dachte ich. „Spür den Boden unter den Füßen - ? Nein, das geht nicht. Vielleicht besser: Spür, wo du Kontakt hast, mit deinen Füßen oder mit deinen Armen … wo du Unterstützung spürst – vom Boden oder vom Stuhl …“ Aber es wurde es viel leichter: Wo ich die richtigen, „inklusiven“, Worte nicht gefunden habe, da hat sie es für sich übersetzt und getan, was für sie richtig war. Mit Armen und Schultern hat sie getanzt, Hände und Finger zur Musik bewegt. Und dann, als freier Tanz angesagt war – da ist sie mit ihrem Rollstuhl losgesaust durch die ganze Kirche. Wir sahen es blinken zwischen den beiden Vorderrädern, und je schneller sie fuhr, umso wilder leuchtete es in bunten Regenbogenfarben. „Super!“ rief einer, „jetzt haben wir sogar Discokugeln!“ Und als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt mit einer Rollstuhlfahrerin zu tanzen, hat jede einzelne aus der Gruppe sie in ihren Tanz einbezogen.
Das hätte bestimmt auch dem Propheten Jesaja gefallen, der von Gottes neuer Welt schreibt: „Dann werden Lahme springen wie ein Hirsch und die Zunge der Stummen wird frohlocken … Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.“ (Jes. 35, 6a.10b) Beim Abschied sagte die junge Frau mit leuchtenden Augen: „Mir geht es so gut!“ Und nicht nur sie, wir alle sind froh - und auch ein bisschen „verwandelt“ nach Hause gegangen.