hr2 ZUSPRUCH
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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Singen heißt sich vergessen

Singen heißt sich vergessen

Es ist ein Wunder, sagt Verena, dass mir Singen so viel Freude macht. Kaum etwas in der Woche macht sie so froh wie die Singstunde in der Gemeinde, immer Dienstag von halb acht Uhr abends bis kurz nach neun Uhr. Heute mit viel Schminke, Luftschlangen und Krebbel. Verena freut sich auf die anderen im Chor, auf die Lieder und den Chorleiter, einen rüstigen älteren Herrn mit viel Ausstrahlung. Aber das alles reicht noch nicht für die eine große Freude, sagt Verena. Das Besondere am Singen sind nicht die Menschen und die Lieder. Das Besondere ist, dass ich mich vergesse.

Verena ist Mitte fünfzig und seit sechs Jahren allein erziehend. Viel zu erziehen gibt es aber nicht mehr. Die Tochter ist erwachsen, der Sohn ist fast achtzehn und wohnt Zuhause. Verenas Vater, gut über achtzig, wohnt auch im Haus und braucht Hilfe. Verena selbst arbeitet auswärts. Wenn sie nach Hause kommt, wartet wieder Arbeit auf sie. Nichts besonderes, mein Leben, sagt Verena. Wenn da nicht das Singen wäre einmal die Woche und ein paar Mal im Jahr in der Kirche. Singen heißt: Sich vergessen. Ich gehe in eine andere Welt, wenn ich in die Singstunde gehe, sagt Verena. Wenn ich im Alt auf meinem Stuhl sitze, ist die vertraute Welt hinter mir. Ganz gleich, was wir singen - ich vergesse meine Welt und bin in einer anderen. Das ist ein Glück, ein Segen, sagt Verena. Ich kann gar nicht genug schwärmen. Ich singe nicht besonders gut, aber besonders gern. Es ist ein Wunder, einmal die Woche. Das Singen ist ein Wunder und die Zeit danach. Ich bin nämlich nach der Singstunde ein anderer Mensch. Na ja, ich will nicht übertreiben, sagt sie. Aber anders bin ich schon; ein bisschen leichter und ein bisschen heiterer. Vielleicht, weil ich in der anderen Welt bin, als wäre ich mal kurz im Himmel. So müsste das Leben sein, sagt Verena: immer ein bisschen leichter, weiter, heiterer. Geht natürlich nicht, sagt sie und lacht dabei. Aber in der Chorstunde geht es doch.

Singen hilft, sich auch mal zu vergessen. Einfach mal nicht bei sich sein. Woanders sein und loslassen, was so bedrängt. Als sei Jesus neben mir und sagt: Mach dir nicht so viele Sorgen; sei mal ein Stündchen wie der Vogel unter dem Himmel, wie eine Lilie auf dem Feld; oder wirf mal ein paar Luftschlangen und lass alles hinter dir, dann sieht es etwas anders aus. Das stimmt sogar, sagt Verena. Alles sieht etwas anders aus. Alles ist noch da, aber anders. Vielleicht bin ich nicht nur einfach im Himmel gewesen für ein Stündchen, vielleicht war der Himmel auch bei mir. Als habe Gott seine Hand auf meine Schulter gelegt und zu mir gesagt: Vergiss mal, was dich beschäftigt, vergiss dich selber mal; ich kenne dich doch.