hr2 ZUSPRUCH
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Wöllenstein, Andrea

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Marburg

Lernen und verlernen

Lernen und verlernen

Ganz entspannt schläft er auf meinem Schoß, der kleine Finn. Gerade mal vier Wochen alt -das jüngste Mitglied unserer Großfamilie. Es ist schon eine Weile her, dass unsere Kinder so klein waren. Umso mehr fasziniert mich dieses kleine Menschenkind. Wie hingegossen liegt er da, um den Mund ein seliges Lächeln. So sind wir alle einmal auf die Welt gekommen, denke ich. So weich und gelöst, ganz im Hier und Jetzt, ohne Gedanken an Gestern oder an Morgen, ein atmendes Bündel Vertrauen.

50 Jahre später fühlt sich der Körper anders an. Der Nacken ist verspannt, der Rücken meldet sich. So selig schlafen kann ich nicht einmal mehr im Urlaub. Alles verlernt. Heute ist oft vom „Lebenslangen Lernen“ die Rede – und das ist gut: Lernen, solange ich lebe, am Ball bleiben, mich weiterentwickeln. Der kleine Finn hat noch viele Lektionen vor sich: Laufen, alleine essen und aufs Klo gehen. Spielen, singen, sprechen. Auch hören lernen: „Halt! Pass auf!“ Lebenswichtige Worte, die er gut speichern muss. Andere Anweisungen werden folgen, die alle ihren Sinn haben zu ihrer Zeit: „Benimm dich! Sieh dich vor! Beiß die Zähne zusammen!“ Wir lernen durch Erfahrungen, durch gute und durch schlechte. Wo ich auf der Hut sein muss. Wie ich mich schützen kann. Wie ich mich am besten verhalte, um Konflikte und Schmerz zu vermeiden.

Solche Erfahrungen schreiben sich ein. Nicht nur in das Gehirn, auch in den Körper. Jede Zelle unseres Körpers hat ihr eigenes Gedächtnis. Ihre Erinnerung an Freude und Lust wie auch an Angst oder Schmerz. Wenn Muskeln angespannt sind, hat das nicht nur mit falscher Bewegung zu tun. Oft sitzen dort auch andere Spannungen, eingegrabene Erfahrungen, die gelöst werden wollen. Manchmal merke ich das, wie sich mit einer Verspannung im Körper auch etwas anderes löst, in tieferen Schichten. Darum müssen wir nicht nur lernen, wir müssen auch lernen zu verlernen. In der Computersprache würde man sagen: Wenn der Speicher voll ist, müssen alte Daten und Programme gelöscht werden, um Platz zu schaffen. Wie viel habe ich gespeichert im Laufe meines Lebens! Wie viel hat sich eingegraben in mein Denken, in meine Seele, in meinen Körper! Haltungen, Gewohnheiten, Einstellungen – die zu ihrer Zeit richtig waren, die mich heute aber möglicherweise eher daran hindern, weiter zu kommen, lebenslang zu lernen.

Ich muss den Nacken nicht immer anspannen, als wäre ich auf dem Sprung. Ich kann alte Denkmuster ablegen, wenn ich merke, dass sie mich nicht weiter bringen. Und warum sollte ich mich für den Rest meines Lebens in meinem Schneckenhaus verkriechen, nur weil ich einmal enttäuscht und verletzt worden bin? Wenn ich mit dem „Vater unser“ bete: „Erlöse uns von dem Bösen“, dann denke ich nicht nur an das Böse in der Welt, sondern auch an das, was in mir gelöst werden will, was sich nach Erlösung sehnt. In meinem Denken und Fühlen, bis hinein in meine Muskeln und Knochen.

Der kleine Finn hat mich daran erinnert: Es ist alles schon da. Du musst das Falsche lassen, „verlernen“, dann wird das andere wieder Raum gewinnen.