Gute Tage und andere...
„Es gibt gute Tage und andere“ antwortete sie, wenn sie gefragt wurde, wie es ihr geht. Ich lernte die Frau, sie war etwa Mitte 50, einige Monate nach dem Ausbruch ihrer Krankheit kennen. Mich hat diese starke und lebensmutige Frau sehr berührt. Auch während der Krankheit hatte sie noch viele Ideen und Pläne, sie war aktiv und kreativ.
Ihre Krankheit machte es ihr nicht immer leicht, aber etwas war im Verlauf der Krankheit mit gewachsen: der unbedingte Wille zu leben.
Wenn es ihr möglich war, ging sie raus in die Natur. Sie hörte gerne das Rauschen der Bäume, beobachtete das Wachsen und Blühen der Pflanzen. Früher war sie gerne gewandert, nun, wo die Kräfte nachgelassen hatten, erkämpfte sie sich wenigstens eine kleine Runde durch das Viertel.
Früher hatte sie viel gearbeitet, oft bis tief in die Nacht, denn es war ihr eine wichtige Aufgabe gewesen, die sie verantwortlich hatte ausfüllen wollen. In diesen Jahren war nicht viel Zeit für die Freunde geblieben, aber jetzt wollten sie die noch verbleibende Zeit gerne füreinander nutzen. Sie war eine tolle Köchin, und sie genoss es, ihre Freunde kulinarisch zu verwöhnen.
Als junger Mensch war sie durch Europa gereist, erwanderte viele Gipfel, und machte Radtouren entlang der Flüsse. Mit dem Wohnwagen ging es an entfernte Küsten und Strände.
Jetzt, am Ende ihres Lebens hieß es, für ein Beatmungsgerät zu kämpfen, das eine möglichst große Reichweite im Haus hat. Soviel Freiraum und Bewegung wie möglich, das war ihr Maßstab.
Sie erzählte mir davon, dass ihre Mutter sie jetzt viel häufiger anrief um ihre Stimme zu hören und um einfach vom Tag zu erzählen und sie sagte: „Es berührt mich, zu merken, wie wichtig ich ihr bin. Es ist toll, dass auch meine Freunde sich am Wochenende so viel Zeit für mich nehmen, und dass wir so viel zu lachen haben, wenn wir zusammen sind.“
Und obwohl ja alle wussten, dass der Tag des Abschieds kommen würde, war es unendlich traurig, sie schließlich loszulassen.
Ihre Krankheit war eine Bürde. Aber auch irgendwie eine ganz große Chance. Sie hatte ihre Antworten auf die Fragen gefunden: Wie möchte ich meine Zeit gestalten? Was ist in meinen Augen wichtig?
So hat sie mich angeregt, mich mit mir auseinanderzusetzen.
Was möchte ich gerne sehen von der Welt? Mit wem möchte ich gerne meine Zeit verbringen?
Zu sehen, wie ihr Leben, besonders in den Jahren der Krankheit, an Tiefe gewann, macht mir Mut, dass man auch solche Zeiten meistern kann: dass man nicht aufgeben muss, lebendig zu sein. Sie war eine Kämpferin, aber nicht um des Kampfes willen, sondern um des Lebens willen. Es gibt mir Hoffnung, wie sie ihren Weg gegangen ist. So wie sie das selbst gesagt hat: „Es gibt gute Tage und andere.“ Nicht alle Tage sind gleich. Auch in Zeiten von Krankheit und Abschied gibt es gute Tage.