Gästezimmer
An der Pension an der Durchfahrtsstraße hing lange ein Schild, auf dem „Fremdenzimmer“ zu lesen war. Es war schon ein bisschen rostig geworden und die Schrift war nicht mehr so gut zu lesen. Da haben es die Besitzer abgenommen und eines neues besorgt: Da steht jetzt: „Gästezimmer“. Auch die Fassade hat einen neuen Anstrich bekommen. Das kleine Haus wirkt jetzt richtig einladend.
Es ist ein Unterschied, ob ich jemanden als Fremden betrachte oder als Gast. Bei einem Fremden steht im Vordergrund: dieser Mensch ist nicht von hier. Das wirkt auf Viele wie ein Nachteil und bietet Anlass zu Spekulationen und manchmal auch zu Vorurteilen.
Betrachte ich einen Menschen als Gast, schaue ich zuerst bei mir selbst: Wie kann ich ihn aufnehmen? Welche Bedürfnisse hat er und was braucht er, um gut versorgt zu sein? Meine Gastfreundschaft ist gefragt. Freundschaft anstatt Misstrauen. Das fühlt sich ganz anders an.
Im Alten Testament wird Gastfreundschaft sehr hoch geschrieben. Als Abraham einmal drei Männer aufgenommen hatte, widerfuhr ihm viel Gutes, und man fragte sich später: waren es vielleicht Engel, Boten Gottes oder sogar Gott selbst, der Abraham besucht hat? In der Geschichte wird erzählt, wie Abraham am Eingang seines Zeltes saß, als er die drei Männer kommen sah, die seine Gäste wurden. Ein jüdischer Kommentar erklärt, Abraham saß deshalb am Eingang, weil er nach Reisenden schauen wollte, die er einladen könnte.
Auch in anderen alten Kulturen wird davon erzählt, wie Menschen fremde Gäste in ihr Haus aufgenommen haben und für ihre Gastfreundschaft reich belohnt wurden, weil es Götter gewesen sind. Es scheint grundlegend für Menschen zu sein, dass sie durch Gastfreundschaft dem Heiligen begegnen können. Wenn ich einen fremden Menschen aufnehme, geschieht unter Umständen etwas ganz Himmlisches.
Ich habe vor einigen Monaten eine Trauerfeier für eine sehr fröhliche und gastfreundliche Frau gestaltet. Die Familie erzählte mir davon, dass bei ihrer Mutter und Oma oft Gäste mit am Tisch saßen. Einmal hatte sie sogar zu Weihnachten spontan zwei griechische Musiker eingeladen, die sie zufällig auf der Straße kennengelernt hatte. Ihre Töchter erinnern sich noch heute an dieses fröhliche Weihnachtsfest. Ihre Familie fühlte sich dadurch und durch die vielen Begegnungen mit anderen Menschen sehr beschenkt. In ihrem Haus fühlte man sich willkommen.
Ich wünsche mir viele solcher Menschen, die wie Abraham oder die gastfreundliche Frau offen dafür sind, wen sie aufnehmen können.
Ich möchte selbst darauf achten, wie ich andere willkommen heißen kann. Eine zeitlang hatte ich regelmäßig Studierende bei mir am Mittagstisch. Einmal in der Woche habe ich nicht für zwei, sondern für sechs Personen gekocht. Einige hatte ich nach dem Gottesdienst sonntags angesprochen, andere waren neu im Chor. Manchmal hat jemand einen Nachtisch oder einen Salat mitgebracht. Es war schön, sich dabei näher kennen zulernen und die Gemeinschaft zu genießen. Ich denke: so was tut dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft gut. Aber auch mir ganz persönlich.