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Eine Sendung von

Hochschulpfarrerin an der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) in Mainz

Auf der Bank

Auf der Bank

Im letzten Herbst habe ich während eines Studienurlaubs für einen Monat bei einer Freundin in Oakland in der Nähe von San Francisco gewohnt. In dem Monat hatte ich viel Zeit, mich durch die Straßen treiben zu lassen, Menschen und Ereignisse zu beobachten, ins Café zu gehen und das Leben etwas geruhsamer anzugehen. Ich war neugierig und gut gelaunt und habe mich von den kleinen Dingen im Leben überraschen lassen.

Oakland hat etwa 400.000 Einwohnerinnen und Einwohner und liegt gegenüber von San Francisco auf der anderen Seite der riesigen Pazifikbucht. Die Stadt ist von je her die kleine und ärmere Schwester von San Francisco gewesen. Sie ist da für all diejenigen, die sich den Schick der Weltstadt nicht leisten können. In Oakland leben viele Afroamerikaner, Frauen und Männer aus der Karibik und aus Asien, Immigranten aus Osteuropa und Lateinamerika. Sie alle sind dort zuhause. Bunt gemischt geht es zu, und das Zusammenleben klappt trotz Armut und hoher Arbeitslosigkeit ganz gut. Die Stimmung auf den Straßen ist geschäftig und lebendig, und die Menschen sind unglaublich freundlich und zuvorkommend.

Als ich meine Freundin nach einem Einkauf zum Kaffeetrinken einlud, setzten wir uns mit unseren Kaffeebechern draußen vor das Café auf eine Holzbank. Da kamen wir mit einem älteren Afroamerikaner ins Gespräch. Er hieß Bill. Bill erzählte uns von seiner Karriere als Architekt in San Francisco. An vielen wichtigen Hochhäusern im Finanzdistrikt von San Francisco habe er mit geplant und gebaut, ein Millionenbudget habe er für Bauvorhaben verwaltet und Unmengen von Personal geführt. Er berichtete uns von architektonischen Finessen, erklärte uns die Statikprobleme von Hochhäusern in dem von Erbeben bedrohten Finanzdistrikt und von Luxusbauten am Fähranleger der Stadt. Es war eine imposante Aufzählung von Aufträgen, erfolgreichen Bauvorhaben und architektonischen Glanzleistungen, die Bill zu bieten hatte. Wir hörten ihm neugierig zu und gerieten doch zunehmend in Zweifel über seine Erzählungen. Denn das, was er uns erzählte, passte so gar nicht zu seiner jetzigen Erscheinung: Er trug weite Jeans und eine ausgeleierte lila-weiße Seidenblousonjacke. Er hatte eine beige Safarikappe auf dem Kopf, die nicht so recht dahin zu gehören schien, und sah irgendwie lustig aus, aber ganz sicher nicht wie ein erfolgreicher Architekt aus San Francisco. Mittlerweile sei er pensioniert und verbringe seine Tage in Oakland, vor allem auf der Bank vor dem Café: genau dort, wo wir saßen. Ein undurchsichtiges Schicksal in Oakland, wie es mir auch in Frankfurt oder anderswo hätte begegnen können. Aber vermutlich hätte ich im Alltag nicht so viel Zeit und Geduld gehabt zuzuhören.

Wir wussten nicht, ob all das, was Bill uns erzählt hatte, wirklich wahr war. Aber für ihn schien es zu stimmen. Und das war die Hauptsache. Was weiß ich schon davon, was Bill in seinem Leben wirklich erlebt hat und welche Erfolge und Misserfolge er hatte? Vielleicht war er ein Stararchitekt und wurde in der Krise arbeitslos, oder seine Villa wurde während der Immobilienkrise wertlos? Bill hatte Charme und Lebenswitz und die beeindruckten mich.

Mir zeigten seine Erlebnisse und Geschichten einen kleinen Ausschnitt aus Gottes Schöpfung. Und Bill erinnerte mich daran, wie vielfältig und wenig berechenbar sie ist. Ich wollte ihn vorschnell als Spinner und Lügner abqualifizieren, weil er nicht die Kleider anhatte, die ich mir zu seinem Leben vorstellte. Aber das wichtigste war doch, dass er uns eine Geschichte geschenkt hatte. Und wir haben sie uns schenken lassen.