Zeitanzeiger
Merkwürdig, dass auf dem Bahnsteig die Zeit so anders vergeht, als wenn ich mit dem Auto in einer Schlange warten muss. Letztens war ich mit dem Auto nach Kassel unterwegs, dann war die Ausfahrt nach Wilhelmshöhe wegen einer Baustelle gesperrt. Also heißt es weiterfahren, nächste Abfahrt nehmen, geduldig sein. Muss ich ja auch, ich kann niemand anderem die Schuld geben, ich hätte mich ja besser informieren können.
Wenn ich auf dagegen auf dem Bahnsteig sitze und die Anzeige bringt das vertraute „ … verspätet sich um voraussichtlich 15 Minuten“ dann schimpfe ich auf die Bahn. Das ist unfair. Im Auto bin ich viel geduldiger. Aber mit dem unfairen Schimpfen entdecke ich doch etwas Schönes. Neben dem Zuganzeiger hängt die Bahnhofsuhr. Da zieht der Sekundenzeiger mit seiner roten Kelle seine Bahn, durch das erste Viertel - mein Gott, wie lang können 15 Sekunden sein, Halbzeit, drittes Viertel bis zur 59 und dann – jetzt kommt das Schöne – zögert der Zeiger für einen Moment. Die Uhr scheint den Atem anzuhalten – und dann springt der Minutenzeiger weiter und der Sekundenzeiger beginnt erneut eine Runde, die er wieder um ein Weniges zu schnell eilen wird und dann - muss er wieder warten.
Wenn ich dieses Zögern sehe, ist mir, als ob für einen Moment das Gewebe der getakteten Zeit aufreißt und dahinter eine andere Art von Zeit sichtbar wird. Mit getakteter Zeit meine ich die Zeit, die wir mit Kalender und Uhren in präzise weltweit gleichmäßig große Takte eingeteilt haben. Das ist großartig, dass es das gibt. Es gibt aber auch die erlebte Zeit, und die verläuft nach ganz anderen, nicht so leicht zu beschreibenden Gesetzmäßigkeiten. „Den Abend lang währte das Weinen, aber des Morgens ist Freude“ heißt es im Psalm 30. Welche Uhr misst die Zeit der Tränen, welcher Kalender die Zeit der Freude? Kein Kalender und keine Uhr können das. Der Mensch erlebt es, und kann es nur geschehen lassen.
Darum – die Ungeduld angesichts der verrinnenden Zeit ist vielleicht berechtigt – aber doch nur begrenzt. Viel wichtiger ist, wodurch die Zeit erfüllt wird. Das regiert in Wahrheit die Lebenszeit und nicht die Uhr am Handgelenk. Deshalb bin ich so vergnügt über das kleine Zögern des Sekundenzeigers der Bahnhofsuhr. Ich werde aufgestört aus der getakteten Zeit, Erinnerung an erlebte Zeit wird sichtbar. Einmal, glaube ich, geschieht noch etwas Neues. Ich sitze auf dem Bahnsteig, der Zeiger läuft auf die Zwölf zu, hält im Zögern inne und bleibt stehen. Auch nach dem Zögern geht er nicht weiter. Wenn das geschieht, hat sich die Zeit erfüllt.