Vergessen und Erinnern
Wenn ich den Religionsunterricht in der Grundschule vorbereite, sitze ich meist da und lese mir noch einmal die biblische Geschichte durch, die gerade dran ist. Dabei findet sich manches, was im Unterricht weniger Platz hat, aber sonst wichtig ist. Vor dem Sommer war ich mit den Kindern und dem Volk Israel 40 Jahre in der Wüste unterwegs. Sie ziehen durch das Meer. Sie kommen an den Berg Gottes. Von dort geht es auf verschlungenen Pfaden weiter. Am Ende der Reise wartet das Land, in dem Milch und Honig fließen sollen. Davor aber liegt quer noch der Fluss Jordan. Je näher nun das Volk Gottes dem Jordan kommt, desto öfter sagt Mose: Erinnert euch, vergesst nicht (z. B. 5. Buch Mose 4).
Mit den Kindern habe ich das Erinnern an sich noch nicht thematisiert, aber für Erwachsene ist es wichtig. Also: Ich nehme mal an, dass Mose nicht so oft auffordern würde, wenn er nicht genau damit rechnete: Die Leute werden vergessen. Wir sind befreite Leute, die mal Sklaven in Ägypten waren – wer will das jetzt noch wissen? Gott, der Lebendige, meinte, ich bin dein Gott? - jetzt nicht so wichtig. Du sollst nicht begehren, auch nicht Häuser und alles, was andere haben? - damit kommt doch keiner mehr zurecht. Daran erinnern wir uns später. Auf diese Art und Weise sind die Erlebnisse und Lehren der Wüstenwanderung später , als man endlich im gelobten Land war, vergessen worden.
Wenn ich darüber nachdenke, scheint mir, dass Vergessen damals wie heute scheinbar absichtslos geschieht, in Wahrheit aber doch immer einen Grund hat. Ein Grund kann sein, dass es zu viele Dinge gibt, an die sich Menschen erinnern wollen. Irgendetwas fällt dann eben hinten herunter. Oder Menschen möchten an etwas nicht mehr erinnert werden, weil es nun gerade nicht passt. Ist es nicht gerade für manche eine Zeit zum Geld scheffeln gewesen? Was soll da die Erinnerung: Du sollst nicht begehren deines Haus.
Vergessen geschieht nicht grundlos. So geschah es damals, als das Gottesvolk jenseits des Jordans ankam. So geschieht es heute in unserem Land. Es ist wohl nicht möglich, das Vergessen abzuschaffen. Aber über die Gründe kann man sich Rechenschaft ablegen. Welcher Grund ist gewichtig genug zu vergessen, dass wir frei sind? Was ist bedeutend genug beiseite zu schieben, dass ein Gott mit uns sein will? Warum sollten wir denn dem anderen sein Haus und Besitz nicht lassen können?
Wenn das Land, auf dem unsere Füße stehen, ein gelobtes Land sein soll, dann müssen wir die Erinnerung mitführen, wie das Volk Gottes damals die Tafeln des Gesetzes in einer Lade mit sich führte.