Umkehr
Eine Studentin kommt spätabends heim in ihre Wohngemeinschaft. Sie ist hundemüde und will sich die Zähne putzen, bevor sie schlafen geht. Auf der Ablage neben ihrer Zahnbürste liegt eine alte Ersatzbrille. Ihr Mitbewohner, ein Sportstudent, hat sie dort liegen gelassen. Die Studentin übersieht sie jedenfalls. Als sie ihre Zahnbürste in die Hand nimmt, fällt die Brille auf die Badezimmerfliesen und das Glas zerbricht.
Die Studentin erschrickt. Und sie ist ärgerlich. Warum liegt diese blöde Brille hier. Ihr Mitbewohner braucht sie doch nie. Außerdem: Warum kauft jemand überhaupt eine Brille aus Glas!
Was nun folgt, kann sich die Studentin später selbst nicht erklären. Sie bückt sich, sammelt in ihrem Zorn alle Scherben auf und schmeißt sie in den randvollen Küchenmülleimer.
Am nächsten Morgen vermisst der Mitbewohner seine Brille nicht. Er braucht sie ja sowieso fast nie. Die Studentin trägt den Küchenmüll runter zu den Mülltonnen. Als sie wieder die Stufen hochkommt, spürt sie, dass es jetzt kein Zurück gibt: Sie traut sich nicht mehr, dem Mitbewohner das Missgeschick zu beichten.
Auch am nächsten Tag sagt keiner was. Die Studentin ist erleichtert. Sie redet sich ein, über die Sache werde Gras wachsen. Ihr Mitbewohner vermisst die Brille ja nicht mal. Nun, einen Tag später, erscheint es ihr ohnehin völlig unmöglich zuzugeben, was passiert ist.
Am übernächsten Tag übernimmt ein anderer Mitbewohner den Hausputz. Im Badezimmer stößt er mit dem Staubsauger gegen ein Stückchen Glas. Er bückt sich, hebt es auf und erkennt den Splitter als einen Teil eines Brillenglases. Es gibt nur eine Brille in dieser WG, die des Sportstudenten. Nur: Wo ist der Rest?
Der Mitbewohner unterbricht seinen Wohnungsputz und zeigt dem Sportstudenten den Glassplitter. Der erinnert sich genau, dass die Brille auf der Ablage unterm Spiegelschränkchen lag. Er rekonstruiert, was passiert sein könnte. Die Studentin sitzt an ihrem Schreibtisch und hört aus der Ferne mit, wie ihre Mitbewohner gemeinsam überlegen. Jetzt müsste sie aufstehen, ins Bad gehen und die Sache aufklären. Aber sie traut sich nicht und zögert noch.
Der Sportstudent kommt von alleine drauf. Jemandem ist die Brille runtergefallen und zersplittert. Er hat sie entsorgt und einen Splitter übersehen.
Er eilt in das Zimmer der Studentin und hält ihr den Glassplitter in der offenen Hand hin. „Warst du das? Hast du die Brille fallen gelassen?“ Die Studentin merkt, wie ihr das Blut in den Kopf schießt. Sie kann jetzt nicht denken. Sie hört sich sagen: „Was ist das?“ Und sie merkt, dass es mit jedem Wort schwieriger wird zu sagen: „Es tut mir leid. Ich war es."
Wenn man die erste Gelegenheit verpasst hat – wann ist dann der richtige Zeitpunkt sich zu besinnen und ein Missgeschick zuzugeben? Das Geständnis fällt von Tag zu Tag schwerer. Eine kleine Vertuschungsaktion wächst zum Schuldkomplex heran. Es sagt sich so leicht, dass es für Umkehr und Buße nie zu spät sei. Aber es stimmt trotzdem: Besser spät zu sich und seinem Tun stehen als gar nicht. Wie derjenige reagiert, dem man den Schaden zugefügt hat, ist natürlich völlig offen. Jeder weiß: Man darf vom anderen nicht erwarten, dass er die Entschuldigung annimmt. Daher auch die Furcht, aus der Deckung zu kommen. Aber die Erfahrung zeigt: Je offener das Geständnis, je ehrlicher die Reue, desto häufiger ist der andere bereit zu verzeihen.
Deshalb gilt als Faustregel grundsätzlich: Gib dir einen Ruck. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt umzukehren