hr2 ZUSPRUCH
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Wöllenstein, Andrea

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Marburg

Öffne meine Ohren

Öffne meine Ohren

Sie kennen sich seit mehr als 20 Jahren. Sie schätzen sich als Kollege und Kollegin im gleichen Fachgebiet, sind sich immer wieder einmal begegnet. Aber es hat bis jetzt gedauert, dass sie zusammengekommen sind. So erzählt es mir ein Brautpaar im Traugespräch. Sie sind nicht mehr jung, aber jung verliebt. Beide haben bereits eine Ehe hinter sich. Das Glück war nicht von Dauer. „Aber jetzt“, sagen sie, „jetzt haben wir sie gefunden, die Liebe unseres Lebens.“ Man sieht es ihnen an: Sie sind glücklich. Das einzige, was sie bedauern: Dass sie so lange gebraucht haben, um sich zu finden. Dass sie so viel gemeinsame Zeit verschenkt haben. Aber sie waren noch nicht offen füreinander. Ihre Zeit war noch nicht da.

Ähnliche Erfahrungen kenne ich aus anderen Zusammenhängen: Mein Blick fällt auf ein Buch in meinem Regal. Vor ein paar Jahren habe ich darin geblättert und es weggestellt – jetzt beginne ich zu lesen und kann gar nicht mehr aufhören. Ich höre eine Musik, die mir so vertraut ist, dass ich sie fast auswendig kenne. Aber jetzt berührt sie mich so, als hörte ich sie zum ersten Mal. Ich treffe Bekannte von früher und wir merken erstaunt, wie viel uns verbindet! Bekanntes anders sehen. Aufgeschlossen werden für neue Beziehungen und Entdeckungen– an diese Erfahrung musste ich denken, als ich folgenden Satz der Bibel gelesen habe: „Von jetzt an lasse ich dich etwas Neues hören. Du hast davon nichts gehört und gewusst. Dein Ohr war bisher nicht offen.“ (Jesaja 58,6.8 Einheitsübersetzung)

Eine Freundin hat mir diesen Vers aus dem Buch des Propheten Jesaja aufgeschrieben. Mir selber ist der Satz nie aufgefallen. „Dein Ohr war bisher nicht offen….“

Neben dem Satz ist ein Bild mit einer Skulptur von Ernst Barlach: „Der Hörende“. Es zeigt einen Menschen, der „ganz Ohr“ ist. Die Hände hält er an seine Ohren wie große Muscheln. Der Blick geht nach oben. Die Augen sind weit geöffnet, voller Erwartung. Die ganze Person ist sozusagen „auf Empfang“. Bereit, zu hören. „Dein Ohr war bisher nicht offen.“Manchmal liegt das Neue ganz nah, ich muss es nur wahrnehmen. Ich brauche keine neuen Bücher, muss die alten vielleicht nur neu lesen. Ich muss nicht in die weite Welt ziehen, um neue Entdeckungen zu machen. Ich muss nicht mein ganzes Leben umkrempeln, um etwas zu erleben, was mich bewegt und inspiriert.

Das Glück liegt manchmal vor mir, ich nehme es nur nicht wahr. Ich bin nicht offen dafür. Dass Ohren geöffnet werden, dass wir offen und aufgeschlossen werden, ist eine pfingstliche Erfahrung. „Öffne meine Ohren, Heiliger Geist“, heißt es in einem Lied, „damit ich deine Botschaft höre. Öffne meine Augen, Heiliger Geist, damit ich die Schönheit der Schöpfung sehe. Öffne mein Herz, Heiliger Geist, damit ich deine Liebe spüre.“ Das Leben hält viele Schätze bereit, die darauf warten, dass sie gehoben werden. Und manchmal ist sogar ein Schatz fürs Leben dabei.