hr2 ZUSPRUCH
hr2
Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Mit den Augen der anderen

Mit den Augen der anderen

Sie hat keinen Sitzplatz bekommen in der Bahn und steht im Mittelgang. Ich sehe von weitem, dass sie sich nicht wohlfühlt, als sei sie in ihrem Körper nicht zuhause. Sie tritt von einem Bein aufs andere, zieht immerzu an ihrem Mäntelchen, greift sich in die Haare, rückt die Brille zurecht und hat mit sich zu tun, während sie nervös umherblickt. Sie ist sehr groß und nicht gerade schlank. Vielleicht bedrückt sie das. Und wer weiß, was ihre Seele noch an Lasten mit sich trägt. Sie bemerkt nicht, dass ich ihr zusehe, ist zu viel mit sich beschäftigt. Jeden Augenblick muss sie die Balance finden zwischen sich und ihrem Unwohlgefühl.

Wieder denke ich: Sie ist in ihrem Körper nicht zuhause, nicht zuhause bei sich. Da ist ein Riss zwischen dem, was sie sein möchte und dem, was sie ist. Vielleicht findet sie sich zu groß, nicht schön genug, zu belastet mit ihrer Familie oder durch Krankheiten, die Freunde haben. Ich kann mir viel denken, was vielleicht stimmt oder nicht. Eins aber mache ich, wenn ich so etwas beobachte: Ich versuche, aus den Augen der anderen zu sehen. Wie sieht diese junge Frau auf die Welt? Vermutlich mit traurigen Augen. Sie fürchtet, dass sie nicht so schön ist wie andere. Sie sorgt sich um ihr Gewicht, wenn sie schlanke Frauen sieht auf den Straßen und in den bunten Blättern. Sie traut der Gesundheit nicht, wenn sie an Angehörige denkt, die krank im Bett liegt. Die junge Frau möchte bestimmt, dass vieles anders ist mit ihr und der Welt, aber das ist es nicht. Es gibt einen Riss zwischen dem, wie es sein soll und dem, wie es ist.

Den Riss erkenne ich, wenn ich meine Christenpflicht tue, nämlich: Die Welt nicht nur mit meinen Augen zu sehen, sondern auch mit den Augen der anderen. Wenn ich einen Menschen verstehen will, so gut es geht, dann genügen meine Augen nicht. Ich muss auch aus den Augen der anderen sehen, muss ihr Leid, ihre Sorgen fühlen und ihre Furcht, den Ansprüchen nicht zu genügen. Vermutlich ist die junge Frau in der Straßenbahn fleißig, tüchtig und kompetent in ihrem Beruf. Sie wird alles sorgfältig und gut machen. Es macht aber viel Mühe, weil etwas zwischen ihr und dem Leben steht: die Furcht, nicht schön genug zu sein, nicht gut genug. Das sehe ich, wenn ich mit ihren Augen schaue. Sie suchen dauernd nach Einverständnis mit sich selbst - und suchen Menschen, die mit ihr einverstanden sind. Ihr Arbeiten an sich selbst, das Ziehen am Mantel, streichen durch die Haare und die Unruhe der Beine sehnen sich nach Anerkennung, nach Ruhe in sich selbst. Wenn doch ein Mensch käme, denke ich, der sie jetzt in den Arm nimmt und sagt: Du bist wer. Du bist mir Recht. Und Gott sowieso.