hr2 ZUSPRUCH
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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Liebe sagt immer nur das eine

Liebe sagt immer nur das eine

Hast du ein Taschentuch? Diese schlichte Frage stellt die Mutter jeden Morgen, wenn ihr kleines Mädchen aus dem Haus geht. Hast du ein Taschentuch? Erst fragt sie das beim Weg des Mädchens in die Schule, später beim Weg in die Fabrik. Noch viele Jahre danach erinnert sich die Frau an ihre Kindheit und diese Frage der Mutter: Hast du ein Taschentuch? Die Frau weiß auch noch genau: In der Schublade im kleinen Schrank hinten an der Wand waren die Taschentücher sorgfältig geordnet. Links die großen für Vater und Großvater, rechts die etwas kleineren für Mutter und Großmutter, in der Mitte die ganz kleinen Taschentücher für das Kind. Schaut man auf die Taschentücher, sieht man ein Bild der Familie.

Die Taschentücher sind aber nicht nur für die laufende Nase. Hast du ein Taschentuch? war das Zeichen der Liebe, der Fürsorge der Mutter, erzählt die Tochter heute, vierzig Jahre später. Kein Morgen, an dem die Mutter nicht fragt. Umarmungen und viele Küsse gab es selten. Auf dem Land früher liebte man anders. Es gibt da diese unscheinbare Frage nach dem Taschentuch. Die kleine Frage ist in Wahrheit eine riesengroße und will sagen: Ich hab‘ dich lieb und denke an dich, ich sorge mich um dich; bitte: Pass gut auf dich auf. Als nähme die Mutter das Mädchen ganz fest in ihre Arme, so fragt sie: Hast du ein Taschentuch?

Liebe benutzt manchmal seltsame Wege, Worte oder Taten. Als sei sie schüchtern, als wolle sie sich verschämt verstecken oder nicht so sehr auffallen. Als wären Worte viel zu wenig, dafür aber ein gebügeltes Taschentuch nötig oder einmal im Monat ein dickes Butterbrot. Manche können ihre Liebe nicht in große Worte fassen, aber in kleine Fragen: Warum bist du so blass? Hast du deine Tasche auch schön gepackt? Willst du erst mal einen Teller heiße Suppe? Soll ich dir den Knopf annähen? Kleine Fragen, große Fürsorge. Man muss nicht von Liebe reden, wenn man sie im Herzen hat und tut. Der andere braucht nicht auf große Worte oder Gesten warten, wenn er die kleinen Fragen hört oder den schön gedeckten Tisch sieht; auf die Blümchen in der Vase achtet oder wie frisch die Kleider immer sind.

Manche sind ein bisschen verschämt, ihnen gelingt die Liebe nicht so sehr als Umarmung oder als dicke Küsse. Zum Glück geht Liebe auch anders als in Worten. Liebe ist dann Fürsorge, einfach und alltäglich. Die große Liebe kann auch in ganz kleinen Schritten daherkommen und fragen: Wie geht es dir heute? Du bist so ernst, hast du dich geärgert? Erzähl’s mir, ich habe jetzt Zeit. Wie die Liebe sich auch zeigt, sagt sie doch immer nur das eine: Du bist nicht alleine auf der Welt.