„Eure Heiligkeit“
Der Papst ist in Deutschland zu Besuch. Heute trifft er Vertreter der evangelischen Kirche. Wie wird das aussehen? Papst Benedikt XVI. wird das Evangelische Augustinerkloster zu Erfurt betreten. Hier kommt ihm dann der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche entgegen, Nikolaus Schneider.
Und was sagt Herr Schneider als erstes? „Guten Tag, Herr Ratzinger“ – geht leider nicht. Das verbietet das Protokoll. Vermutlich wird Nikolaus Schneider zu Josef Ratzinger sagen: „Willkommen, Eure Heiligkeit“ – so erfordert es das Protokoll. Dabei ist Herr Ratzinger für Herrn Schneider nicht mehr geheiligt als jeder andere Christ auch. Herr Schneider ist Protestant. Und als solcher erkennt er im Papst einen hochgeschätzten, klugen ökumenischen Gesprächspartner. Aber keinen Menschen, dem außergewöhnliche Heiligkeit anhaftet.
Nein, die Anrede ist ein Spiel. Und alle werden dieses Spiel mitspielen. Ebenso sagt man ja auch „Exzellenz“, wenn ein Botschafter kommt. Oder „Eure Hoheit“, wenn die Queen aus England zu Besuch kommt. Natürlich könnte man auch sagen „Guten Tag, Frau Windsor“– und vielleicht wäre das gar nicht mal so verkehrt unter Christen.
Im Matthäusevangelium, 20. Kapitel, wird erzählt, wie sich Jesus mit seinen Jüngern unterhält. Zwei Jünger bitten ihn, ob sie im Himmel direkt den vornehmsten Platz einnehmen könnten, nämlich den an seiner Seite. Da antwortet Jesus:
„Ihr wisst, dass die weltlichen Fürsten herrschen und die Obersten Gewalt haben. So soll es unter euch nicht sein. Sondern, wenn jemand unter euch gewaltig sein will, sei er euer Diener; und wer der Vornehmste sein will, der sei euer Knecht.“
Der Gedanke fasziniert mich, dass Menschen ihre Autorität nur aus ihrer Integrität und ihrer moralischen Geradlinigkeit ziehen – nicht aber aus der Pracht, die sie um sich aufbauen.
Es gibt ja durchaus solche Menschen. In Indien hat es kürzlich ein einzelner geschafft, die Regierung in die Knie zu zwingen. Er wollte eine schärfere Korruptionsbekämpfung durchsetzen. Bis dahin war der Mann im einfachen weißen Baumwollanzug nur ein Bauernaktivist gewesen, den außerhalb seiner Provinz nur wenige kannten. Er trat in den Hungerstreik. Binnen weniger Tage wurde er zu einer Art Nationalheld und stand an der Spitze der größten sozialen Bewegung, die Indien seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1947 erlebt hat. Die Regierung lenkte ein und verabschiedete tatsächlich schärfere Korruptionsgesetze.
„Wie viele Divisionen hat der Papst?“, soll Sowjetführer Joseph Stalin einmal höhnisch gefragt haben. Womit er sagen wollte, dass der Papst ohnmächtig ist und im europäischen Konzert der Mächte keine Rolle spielt. Denn der Papst hat keine einzige Division – allenfalls die kampfuntaugliche Schweizer Garde.
Trotzdem liegt in dieser Ohnmacht eine Stärke. Der Vorgänger des jetzigen Papstes, Johannes Paul der Zweite, hat mit seiner Ohnmacht wesentlich dazu beigetragen, dass der kommunistische Ostblock zu Fall kam.
Er hatte den Polen Ende der siebziger Jahre zugerufen: „Der Geist des Herrn möge das Gesicht dieser Erde verändern.“ Die Menge applaudierte daraufhin laut und lange. Zehn Jahre später war das Gesicht der Erde verändert. Der kommunistische Ostblock, den Joseph Stalin einst mit Panzern erzwungen hatte, war in sich zusammen gestürzt, ohne dass ein Schuss gefallen war.
Wenn der Papst und die Vertreter der evangelischen Kirche sich heute treffen, dann begegnen sich Menschen, die kein Militär in Bewegung setzen können, die die Finanzströme auf dieser Welt in keiner Weise beeinflussen können, die auch keine Gesetze mit Polizeigewalt durchsetzen können.
Es sind Menschen, die ein bisschen mit Ehrerbietungen spielen und sich mit bestimmten Titeln anreden. In Wirklichkeit sind sie aber völlig ohnmächtig. Und das ist erstaunlicherweise ihre größte Stärke.