Die Sache mit dem Hut
Eine halbe Stunde vor Gottesdienstbeginn kam ein Konfirmand mit Kappe auf dem Kopf und fragte, ob er am Eingang der Kirche die Gottesdienstbesucher begrüßen und ihnen ein Gesangbuch austeilen dürfte. Ich war erfreut über sein Engagement und bat ihn, die Kappe abzunehmen, wie es bei uns beim Gottesdienstbesuch üblich ist. Zu meiner Verwunderung nahm er die Kappe ohne Murren oder Nachfragen ab. Da wurde ein großes weißes Pflaster auf seinem Kopf sichtbar. „Oh, bist Du gestürzt?“ – lautete meine spontane Nachfrage und seine Antwort: „Nein ich habe einen Tumor.“ Ich war erschrocken und verunsichert. „Normalerweise trage ich ja keine Kappe“, sagte der Jugendliche, „aber ich wollte meine Wunde verdecken. Ich bin schon 33 Mal operiert worden in meinem Leben. Und in der Schule mobben sie mich und nennen mich ‚Tumor‘.“ Nach und nach kamen weitere Gottesdienstbesucher, und ihre erste Frage war: „Oh, was hast Du denn gemacht?“ Immer wieder seine tapfere Antwort: „Ich habe einen Tumor!“
„Willst Du die Kappe wieder aufsetzen“, fragte ich schließlich, „damit Du nicht mehr gefragt wirst?“. „Nein, schon gut, ich bin das ja gewohnt!“ Wir überlegten noch gemeinsam, ob er vielleicht auf Nachfragen sagen sollte: „Ich bin nicht auf den Kopf gefallen!“ Er probierte es und blieb dann aber bei „Ich habe einen Tumor.“
Ich gebe zu, dass es mich erschüttert hat, wie die wohlgemeinten Reaktionen der Menschen auf die Erkrankung dieses Jugendlichen waren. Bis dahin, dass jemand sagte: „Du bist aber sehr tapfer, wo Du doch so sterbenskrank bist.“ Einmal mehr ist mir deutlich geworden, wie verunsichert Menschen sein können in einer Situation, auf die sie nicht vorbereitet sind. Sie tun sich sehr schwer, überspielen ihre Gefühle. Sie schauen eher weg, als dass sie sich dem Jungen zuwenden, dem das bestimmt sehr gut getan hätte.
In der Begegnung eines Menschen mit einer sehr ernsten Erkrankung rückt uns die Angst sehr nahe, dass wir selbst davon getroffen werden könnten. Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, diesen Moment der Angst auszuhalten und sich dem erkrankten Menschen zuzuwenden.
In der Bibel wird Wesentliches über den Umgang Jesu mit Kranken überliefert. Es wird beschrieben, wie er sich anrühren lässt durch eine Krankheit. Er setzt sich einem kranken Menschen aus. Er geht ihm nicht aus dem Weg. Jesus geht persönlich auf Kranke ein bis hin zum Körperkontakt. Er nimmt sich Zeit. Er bleibt. Hilfe beginnt dort, wo er genau hinhört, was sein Gegenüber braucht.
Ich habe den Eindruck, der Junge in der Kirche wollte einfach einmal herauskommen aus seinem Ausgegrenzt sein. Ein bisschen Normalität wäre schon ein guter Anfang.