Die Chronik
Gerda stand auf und ging zu der alten Truhe, ein Schmuckstück ihres Wohnzimmers. Sie klappte den Deckel auf und holte einen umfänglichen Band hervor. In Leder gebunden, abgegriffen, ca 15 cm dick, fast Kirchenbibel-Format.
„Das“, sagte sie, und legte mir das Buch in den Schoss, „ist mein größter Schatz. Es wäre das, was ich noch vor dem Sparbuch retten würde, wenn hier, was Gott verhüten möge, ein Brand ausbräche.“
Das Buch war handgeschrieben. „Ja,“ sagte Gerda. „Da hat sich meine Mutter viele viele Abend in vielen vielen Jahren hingesetzt und aufgeschrieben, wie ihre Älteste sich entwickelte.“
Zunächst in der altdeutschen Sütterlin-Schrift, später dann in flüssiger Latein-Schrift blätterte sich mir die Chronik einer Kindheit auf, die 1937 begann und in den 50er Jahren endete.
„Das waren Mütter!“ sage ich, unfreiwillig gerührt. „Die hatten noch Zeit. Das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie kannten sie noch nicht.“
„Dafür massenhaft andere, am Ende wohl belastendere Probleme“, sagt meine Freundin und blättert in den Seiten, die mit Fotos, Zeichnungen, eingelegten Zetteln angereichert waren.
„Die Mutter-Kind-Idylle wurde ja schon bald vom Krieg überschattet. Von Bombenangriffen, von der Kriegswirtschaft, von der Sorge um Brüder, Ehemänner und Freunde an der Front. Wenn ich das heute lese, empfinde ich es nicht nur als eine Chronik meiner Kinderjahre. Es ist in gleichem Maße auch das Tagebuch einer jungen Frau, die bald für zwei, dann drei, dann vier Kinder zu sorgen hatte und sich immer wieder fragte, was am Ende das Schicksal dieser Familie sein würde.“
„Weißt Du“, sage ich, „50 Jahre später machen aidskranke Mütter in Afrika etwas ganz Ähnliches. Sie legen Erinnerungsbücher für ihre Kinder an, memory-books, für die Zeit danach...“
Aus der Chronik flattert ein blauer Abschnitt. Ich hebe ihn auf. Eine Reichskleiderkarte von 1943. „Guck Dir das an“, sagte die Freundin, „Bezugsnachweis für ein paar Strümpfe, mit Zeitangabe, ab wann einlösbar. Damals konntest Du nicht einfach in den Laden gehen und ein paar Schuhe kaufen oder einen Pullover... Also, allein die Organisation des Alltags verschlang unendlich viel mehr Zeit als heute.“
Mein Blick hatte sich inzwischen an einem Bericht festgelesen. An der Aufzeichnung nach einem schweren Bombenangriff am 9. März 1942. Stundenlang hatten Mutter und Kinder im Keller gesessen, Die Erde hatte gebebt und die Nachricht, dass die benachbarte Kirche brannte, alle entsetzt. In jeder Feuerpause war jemand von den Erwachsenen nach oben gelaufen, um Kleider und Bettzeug zu holen und das Dach zu kontrollieren wegen Funkenflug und Brandbomben.
„Wir wurden gnädig behütet“, lese ich in der Chronik „nur eine Fensterscheibe war zersprungen und voll tiefer Dankbarkeit faltete Mutter mit den Kindern die Hände zum Gebet, als wir um 6 Uhr morgens aus dem Keller kamen.“
Die Chronik notiert dann noch, dass das Kind Gerda fand, es hätte Anerkennung auch von anderer Seite verdient. „Mutter, gibt der Führer nicht auch ein Eisernes Kreuz für tapfere kleine Mädchen?“
Eine Kriegskindheit wirft lange Schatten. Doch wer soviel bewahrte Erinnerung besitzt, kann nie ganz heimatlos werden in dieser Welt.