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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Alles findet sich in allem (Fernando Pessoa)

Alles findet sich in allem (Fernando Pessoa)

Er nennt sich selbst einen Hilfsbuchhalter, weil er gerne tief stapelt. Es stimmt, er ist Buchhalter, zugleich aber einer der bedeutendsten Schriftsteller Europas, der Portugiese Fernando Pessoa (1888 - 1935). Er wird nur 47 Jahre alt, hat uns aber kleine Texte hinterlassen, die so schön sind wie wahr („Das Buch der Unruhe“). Er lebt bescheiden in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, geht seiner Arbeit nach, beobachtet, sitzt im Kaffe bei wärmender Sonne und schreibt viele kleine Zettel voll, die er bei sich zuhause in einer Holzkiste sammelt. Erst nach seinem Tod werden sie gefunden. Auf einem der Zettel steht eine Lebensregel, die ich gerne beherzigen möchte. Sie heißt:

Es ist eine Lebensregel, daß wir von allem lernen können und sollten. Es gibt ernsthafte Dinge des Lebens, die wir von Scharlatanen und Gaunern lernen können, es gibt philosophische Einsichten, die uns die Narren verschaffen, es gibt Lektionen in Standhaftigkeit und Gerechtigkeit, die uns der Zufall lehrt und die Früchte des Zufalls sind. Alles findet sich in allem.

Es stimmt einfach, was Pessoa da schreibt. Und ich würde einen Fehler machen, denke ich, wenn ich diese Lebensregel nicht beherzigen würde: Alles findet sich in allem. Die Narren sind nicht einfach nur Narren, die ich übersehen darf. Die Gauner sind nicht nur Gauner, auf die ich verächtlich blicke. Und selbst Scharlatane können mich etwas lehren. Kein Mensch ist nur das, was er mir zeigt. Jeder Mensch ist mehr als das Bild, das er abgibt. Manche verkleiden sich in Narretei, um nicht verletzt zu werden. Andere zeigen dauernd ihren bitteren Ernst, weil sie sich nicht mehr getrauen zu lachen. Jeder Mensch bleibt ein Rätsel, wenn man etwas tiefer schaut. Wie Jesus das getan hat

Er sah immer mehr als nur die Oberfläche. Selbst bei denen, die ihm übel wollten oder auf die Probe stellten. Er hat sie nicht alle geliebt, gewiss nicht, aber geachtet hat Jesus sie. Und versucht, von ihnen zu lernen. Wenn sich alles in allem findet, dann finden sich ein paar Körnchen der großen Wahrheit auch bei denen, die immer nur lachen oder missmutig sind oder sich überall wie angewidert abwenden. Ich muss nur hinter die Fassade schauen und das sehen, was jeder Mensch ist - auf seine besondere Weise: Bedürftig. Dann entdecke ich, was ein Narr oder ein Scharlatan vielleicht nicht mit seinen Worten, aber mit seiner Haltung zu erkennen gibt: Nehmt nicht alles von mir so ganz ernst, wollen sie mir zeigen. Aber nehmt mich selbst ganz ernst. Wer mich lässt, wie ich bin, ist auch fähig, mich zu ändern.