hr2 MORGENFEIER
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Tönges-Braungart, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Bad Homburg

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Warum Maria auch für Protestanten ein Vorbild sein kann

Ich habe sie heute immer noch vor Augen: das Bild der Maria in der kleinen Dorfkirche meiner ehemaligen Gemeinde. Der große Schatz dieser Kirche sind mittelalterliche Fresken, darunter auch ein Weihnachtszyklus. Das erste Bild zeigt einen Engel und eine Frau: Maria. Der Engel kündigt ihr die Geburt Jesu an. 

Maria als lesende Frau

Auf dem Fresko in der kleinen Dorfkirche ist Maria dargestellt als eine junge, hübsche Frau. Der Maler hat sie an ein Lesepult gestellt mit einem aufgeschlagenen Buch. Er zeigt Maria als eine Frau, die sich in der Heiligen Schrift auskennt, besonders in den Weissagungen der Propheten. 

Himmelskönigin Maria oder Pietà

Es gibt auch ganz andere Darstellungen der Maria: als Himmelskönigin zum Beispiel, strahlend und fast unnahbar, mit einer Krone und einem weiten, blauen und mit Sternen besetzten Mantel. In Andalusien habe ich solche Marienfiguren gesehen - ungeheuer prachtvoll. Und es gibt die Marienbilder als Pietá, als Klagebilder: Nach der Kreuzigung hält Maria, die Mutter, ihren toten Sohn Jesus in den Armen. 

Wer ist Maria für Christen heute?

Wer war Maria, die Mutter Jesu? Und wer ist sie für Christinnen und Christen heute? Diesen Fragen möchte ich nachgehen.

Maria in katholischer Tradition

In der katholischen Kirche und in der Volksfrömmigkeit ist Maria eine wichtige Gestalt. Viele katholische Christen beten zu Maria. Sie bitten darum, dass Maria für die Menschen bei Gott eintritt. So klingt es auch an in einem Mariengebet, dem Ave Maria. Da heißt es: „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir!“ Und später: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.“

Maria als Fürsprecherin vor Gott

Nach dieser Vorstellung tritt Maria bei Gott ein für die Menschen. Sie stellt sich schützend vor sie. Diese Idee stammt aus dem Mittelalter, einer Zeit, in der Gott für viele Menschen wie ein unbarmherziger Richter war, der jeden nach seinen Taten beurteilt und verurteilt. Da war ihnen Maria in ihrer Menschlichkeit viel näher, greifbarer. Sie bildete ein mütterliches Gegenüber zu der Vorstellung von Gott als dem unbarmherzigen Richter. 

Protestantische Sicht auf Maria

Maria als Anwältin der Menschen bei Gott - diese Vorstellung ist den meisten Protestanten fremd. Vor allem, weil Luther und die Reformatoren die gnädige, liebevolle Seite an Gott selbst wiederentdeckt haben. Außerdem haben sie Wert darauf gelegt, dass keine Zwischeninstanz zwischen den Menschen und Gott steht außer Jesus Christus. Damit haben sie die Marienverehrung über Bord geworfen. Und leider ist für viele evangelische Christinnen und Christen dabei auch Maria selbst verloren gegangen. Sie spielt für ihren Glauben kaum eine Rolle.

Maria als zentrale Figur im Neuen Testament

Dabei ist sie eine ganz wichtige Gestalt im Neuen Testament: immerhin die Mutter Jesu. Aber nicht nur als Mutter ist sie interessant. 

Musik 1: Simon Wawer, Ave Maria, Preisung (Sjaella)

Maria – eine junge Frau aus Nazareth Zunächst einmal ist nichts Besonderes an ihr. Doch dann erscheint ihr ein Engel. Die Bibel erzählt davon im Lukasevangelium:

Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! 2Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? 3Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. 3Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. 3Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben. (Lukas 1, 26-33)

Marias erschrickt vor der göttlichen Botschaft

Eine junge Frau, aus einfachen Verhältnissen: Kein Wunder also, dass sie erschrickt, als ausgerechnet ihr ein Engel erscheint und sie so ehrerbietig anredet: „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!“ Der Engel bringt ihr die Botschaft: Gott hat ausgerechnet sie ausgewählt, um den Messias zur Welt zu bringen. Maria kann das kaum glauben. Aber sie will verstehen. Und deshalb fragt sie nach und lässt sich von dem Engel erklären, wie das gehen soll. Sie weiß: Es wird nicht einfach sein, was auf sie zukommt. Maria ist noch nicht verheiratet. Und plötzlich schwanger.  

Was meint Jungfrauengeburt?

Ob Maria nun wirklich Jungfrau war oder nicht, sei einmal dahingestellt. Das Bild von der Jungfrauengeburt will nichts über Biologie aussagen, sondern über das Wunder: Dieses Kind soll die Welt verändern, soll das Heil zu den Menschen bringen. Und dieses Heil geht allein von Gott aus. Dass Jesus als Sohn der Maria zur Welt gekommen ist, das ist allein Gottes Werk. Gottes Geschenk an uns Menschen. 

Marias Schwangerschaft als Schande

So verstehe ich es heute. Maria damals wusste wohl nur: Eine voreheliche Schwangerschaft ist eine Schande. Ihr Verlobter Josef hat sogar erwogen, sie im Stich zu lassen. Doch er ist geblieben – das ehrt ihn. 

Ehre und Last

Maria wird also den Messias zur Welt bringen. Eine große Ehre – aber auch eine große Last.   

Maria will diese Last nicht alleine tragen. Hilfe findet sie bei Elisabeth, ihrer Verwandten und Freundin. Drei Monate bleibt Maria bei ihr. Und die beiden Frauen stärken und helfen einander. Mehr und mehr sieht Maria, was für ein Wunder ihre Schwangerschaft ist. Sie kann sich darüber freuen und Gott dafür loben. Sie singt sogar ein Loblied auf Gott. Der Evangelist Lukas hat die Worte überliefert:

Magnificat: Marias kraftvolles Loblied

Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn,
und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes;
denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Denn er hat große Dinge an mir getan,
der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
Und seine Barmherzigkeit währet für und für
bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm
und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf,
wie er geredet hat zu unseren Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.

(Lukas 1, 46-55)

Marias Vision: Gerechtigkeit 

„Meine Seele erhebt den Herrn … denn er hat große Dinge an mir getan“, singt Maria. Es ist das Lied einer jungen Frau, die sich Gedanken macht über das, was Gott mit ihr und ihrem Sohn vorhat. Dabei blickt sie weit über ihr eigenes Leben hinaus. Sie erinnert sie sich an die Worte und Geschichten der Heiligen Schrift – was darin verheißen ist: Gewalt endet. Hungrige werden satt. Gott sorgt sich um seine Menschen. Sie malt sich aus, was das ganz konkret bedeutet für ihre Zeit. Nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze Welt. 

Ist Maria selbstbewusst oder nur demütig?

Die Worte, die Maria wählt, sind kraftvoll, fast radikal: sie denkt und spricht gegen den Strich, gegen die übliche Ordnung. Maria ist nicht nur still und demütig, wie viele Marienbilder meinen, sondern selbstbewusst und stark. 

Musik 2: Arr. A. Brandl, Maria durch ein Dornwald ging, Es Ist Ein Ros' Entsprungen (Die Singphoniker)

Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Er gibt Nahrung den Hungernden und gedenkt seiner Barmherzigkeit. So hofft und singt Maria. Sie träumt, dass Gott Frieden schafft und Gerechtigkeit für alle Menschen. 

Moderne Träume aus Marias Magnificat

Diesen Traum träume ich auch. Heute könnte das Loblied der Maria so klingen: Der Krieg in der Ukraine endet, Grenzen stehen verbindlich fest und sind durch Verträge abgesichert. Zerstörte Städte werden wiederaufgebaut. Israelis und Palästinenser erkennen einander an und leben miteinander in guter Nachbarschaft. In Deutschland gibt es ein neues Rentensystem, das Alten und Jungen gleichermaßen dient; Migrantinnen und Migranten werden unterstützt und finden ihren Platz in unserer Gesellschaft. 

Maria als Mutter des Glaubens und Vorbild

Mit ihrem Loblied ist Maria für mich so etwas wie eine Mutter des Glaubens, ein Vorbild im Glauben. 

Sie träumt von einer friedlichen, gerechten Welt und setzt dabei alle Hoffnung auf Gott. Für sie ist klar: Gott ist es, der Großes tut. Aber als der Engel zu ihr kommt und ihr die Schwangerschaft ankündigt, antwortet sie: „Siehe, ich bin des Herrn Magd. Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Maria hofft also auf Gott. Aber sie tut auch ihres dazu. Sie überlässt sich Gott. Sie lässt sich ein auf das, was Gott mit ihr vorhat. 

Maria als Kämpferin für Frieden

Auch darin ist sie mir ein Vorbild: Dass mein Traum von Frieden und Gerechtigkeit heute wahr wird, darum bitte ich Gott. Ich weiß: ich kann selbst nur wenig beitragen.

Aber ich kann mich wie Maria von Gott in den Dienst nehmen lassen: Ich möchte widersprechen, wenn jemand einseitige Schuldzuweisungen erhebt, wenn jemand abfällig redet über „die da oben“ oder „die Flüchtlinge“, wenn Menschen verächtlich gemacht und pauschal verunglimpft werden. Ich möchte widersprechen, wenn jemand sagt: Es ändert sich ja doch nie etwas; es lohnt sich ja doch nicht, sich für andere zu engagieren. 

Ich möchte meine Hoffnung auf Gott nicht aufgeben, der Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen will. Maria mit ihren kraftvollen Worten bestärkt mich darin. 

Die stille Maria der Weihnachtsgeschichte

In wenigen Tagen ist Weihnachten. Dann höre ich anders von Maria – in der Weihnachtsgeschichte, der Geschichte von der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem. Nachdenklich und still ist Maria in dieser Geschichte. Die Geburt, der Besuch der Hirten und was die erzählen: von Engeln, die ihnen auf den Feldern erschienen sind und die gesungen haben vom Frieden auf Erden. Maria hört ihnen zu. Sie sieht ihr Kind. Und – so heißt es – sie bewegt alles, was sie erlebt und gehört und gesehen hat in ihrem Herzen. 

Musik 3: Jonathan Brell, Die Nacht ist vorgedrungen, Adventslieder German Advent Songs (Schwesterhochfünf)

In der Weihnachtsgeschichte ist Maria still, erschöpft von der anstrengenden Geburt. Und zugleich dankbar und glücklich, dass sie ihr Kind in den Armen hält. Sie sieht ihr Kind und überlegt: Was wird die Zukunft ihm bringen? Wie wird sein Leben einmal sein? Vielleicht fragt sie sich, was für ein Mann dieses Kind einmal wird. Ob es wirklich die Welt zum Guten verändert? Sie erinnert sich vielleicht an die Botschaft des Engels. Der hatte ihr gesagt: Dein Kind wird Sohn des Höchsten genannt; und Gott der Herr wird ihm den Thron geben, und er wird König sein, und sein Reich wird kein Ende haben. 

Was bedeutet die Engelbotschaft für Maria?

Was bedeutet diese Botschaft des Engels? Für ihr Kind – für sein Leben. Und: Was bedeutet das für sie als Mutter? 

Verantwortung als Mutter des Messias

Ein so besonderes Kind großziehen: Das ist eine Ehre. Aber ich stelle mir auch vor: Maria spürt eine große Verantwortung. Vielleicht empfindet sie es sogar als Last. Vielleicht ahnt sie schon jetzt: Ihr Kind wird Großes bewirken, aber auch großes Leid erfahren. Und sie? Ich stelle mir vor, wie sie schützend die Arme um ihren Jungen legt. Das wird sie nicht immer können. Aber da sein, wenn er sie braucht. Bis zuletzt. 

Zwei Facetten: Aufmüpfige und stille Maria

Zwei ganz unterschiedliche Bilder von Maria stehen mir vor Augen: 

Da ist die selbstbewusste junge Frau mit einem weiten Horizont. Mit starken Worten und Bildern besingt sie ihren Traum von einer besseren Welt.

Und dann ist da die stille, nachdenkliche Frau. Sie muss sich erst finden in der Rolle, die Gott ihr zugedacht hat: die Mutter Jesu sein. Ob sie dieser großen Verantwortung gerecht werden kann? Aber schließlich hat Gott doch sie dafür ausgesucht! 

Trotzdem: Der Weg mit ihrem Sohn wird nicht einfach werden.

Selbstbewusste Maria oder nachdenkliche Mutter?

Die selbstbewusste, aufmüpfige - und die stille, nachdenkliche Maria. Zwei unterschiedliche Facetten dieser Frau. Für mich gehören beide zusammen. 

Die singende Maria – sie sprüht vor Kraft und Hoffnung. Aber wenn Hoffnung überschäumt, kann sie zur Illusion werden. Dann verliere ich aus dem Blick: Welche Verantwortung trage ich für diese Hoffnung? Was muss ich dafür tun, dass sie sich erfüllt – zumindest teilweise? Überschäumende Hoffnung birgt in sich die Gefahr, dass ich die Bodenhaftung verliere. Da ist es gut, dass Maria still wird. Nachdenkt. Sich bewusst macht: Wo liegen meine Grenzen? 

Grenzen erkennen – Gottes Wirken vertrauen

Und andererseits: Der Gedanke an meine Grenzen und daran, wie viel Verantwortung ich trage: Dieser Gedanke kann lähmen: Alles zu viel, zu groß für mich. Das schaffe ich unmöglich! 
Dann will ich mich erinnern: Es ist Gott, auf den sich meine Hoffnung richtet. Es ist Gott, der Frieden und Gerechtigkeit schafft - auch durch mich. 

Kraft, Demut und Vertrauen in Maria

Kraft und Hoffnung und starkes Selbstbewusstsein sehe ich in Maria. Und höre es in ihrem Lied: „Siehe von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder“. 
Und Demut und Vertrauen in Gott höre ich - in ihrer Antwort an den Engel: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“

In Maria kommt beides zusammen. Beides gehört zusammen, das fasziniert mich an ihr. 

Maria heute: Vorbild für starken Glauben

Wer war Maria, die Mutter Jesu? Und wer ist sie für Christinnen und Christen heute?

Für mich ist Maria weit mehr als nur die Mutter Jesu. Sie ist eine starke, selbstbewusste Frau, die auch gegen den Strich, gegen die geltende Ordnung denkt. Sie hat einen weiten Horizont, der über ihre eigene Welt und ihr eigenes Leben hinausgeht. Sie sie lässt sich nicht beirren in ihrer Hoffnung. Darin ist sie für mich ein Vorbild.

Marias Lebensweg: Annahme und Hoffnung

Sie ist aber auch ein Vorbild in ihrem Vertrauen auf Gott. Denn sie hat den Weg, den Gott mit ihr gehen wollte, ganz bewusst angenommen. Als junge Frau ist sie die Mutter Jesu geworden; sie hat ihn großgezogen und durchs Leben begleitet; sie hat erlebt, dass er sich von ihr gelöst hat und seinen eigenen Weg gegangen ist; seinen Weg, um der Welt Frieden und Gerechtigkeit zu bringen. Maria hat seinen Tod erlebt und ihn begraben und danach doch wieder neue Hoffnung gefunden. Sie ist den Weg gegangen, den Gott mit ihr gehen wollte - mit Umwegen, Irrwegen und Brüchen. Das ermutigt mich: Auch ich bleibe hoffnungsvoll und lasse mich mitnehmen von Gott auf den Weg, den er mit mir gehen will. 

Musik 4: Dietrich Buxtehude, Magnificat, D. Buxtehude Festliche Kantaten (Luthers Bachensemble, Pieter-Jan Belder)