Der Schatz des Lebens
Wo ist mein Schatz? Wenn Sie J.R.R. Tolkiens Klassiker "Der Herr der Ringe" gesehen oder – noch besser – gelesen haben, dann haben Sie jetzt Gollum vor Augen, jene abgrundtief böse und hinterlistige, aber auch bedauernswerte Kreatur, die verkrümmt und verkümmert, kaum mehr menschenähnlich, an nichts anderes mehr zu denken vermag, als den Ring Saurons wiederzuerlangen. Jenen einen Ring, um "sie alle zu knechten". Und wirklich – alle werden sie letztlich vom Ring beherrscht, vom geheimen Zauber dieses Schatzes, der größte Macht verspricht und doch nichts anderes schafft als SklavInnen und Unmenschen.
Und die Suche nach dem Schatz des Lebens macht nicht immer nur glücklich. Ich selbst wurde dabei erinnert an das Lieblingsbuch meiner Jugend. In Robert Louis Stevensons Abenteuerroman „Die Schatzinsel“ macht sich ein junger Mann, Jim Hawkins, auf die gefährliche Suche nach einem verborgenen Schatz. Doch was als Schatzsuche beginnt, wird schnell zu einer Reise der inneren Reifung: Jim muss lernen, wem er trauen kann, er muss Mut beweisen, Entscheidungen treffen – und sich gegen Gier, Verrat und Gewalt behaupten. Jeder Mensch ist auf einer Reise – durchs Leben. Oft suchen Menschen wie Jim nach dem großen Schatz: nach Glück, Sicherheit oder Erfolg. Die Botschaft Jesu lehrt uns, dass der wahre Schatz des Lebens aber nicht aus Gold und Silber besteht, sondern aus Glaube, Liebe und Hoffnung. (vgl. 1. Korinther 13,13)
Besitze ich einen Schatz?
Stellt sich also die Frage: Wo liegt unser Schatz? Eine schwierige Frage. Habe ich überhaupt einen Schatz? Ich habe keinen, weil ich nicht reich bin? Oder doch einen - etwas, an dem mein Herz hängt? Woran aber hängt das Herz? Wenn Sie glücklich sind, dann können Sie vielleicht ganz ehrlich sagen: „mein Schatz" - und meinen damit nicht einen Besitz, sondern einen anderen Menschen.
Ist es gut oder ist es schlecht, einen Schatz zu haben? Engt ein Schatz ein oder macht er frei? Vielleicht ist die Schwierigkeit eben die, dass es auf diese Frage keine eindeutige Antwort gibt. Jeder und jede von uns kann das nur für sich selbst beantworten: Bin ich Sklavin bzw. Sklave meines Schatzes oder bin ich frei? Muss ich meine Schätze loslassen, um frei zu werden oder sind meine Schätze wirklich solche, die mich und andere frei machen, glücklich machen, das Leben gelingen lassen? Und so wird es zur entscheidenden Frage: Das loszulassen, was mich gefangen nimmt und das zu suchen, was mich frei macht. Die Worte Jesu, die wir im Evangelium des Lukas hören, sind einfach, klar und doch zutiefst herausfordernd. Jesus sagt: „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“ Ein kurzer Satz. Aber ein Satz, der wie ein Lichtstrahl unser Innerstes durchdringt. Er spricht von der tiefsten menschlichen Sehnsucht, vom Ziel, von der Liebe – und von dem, was letztlich trägt oder niederdrückt.
Musik: Sergei Prokofiev - Romeo & Juliet, Op. 64 Act I No. 3 - Boston symphony orchestra Sejii Ozawa
Das Herz trägt den wertvollsten Schatz – die Liebe
Was bedeuten diese Worte Jesu nun für unser Leben als Christen? Es gilt, herausfinden, was der „Schatz“ ist, wo das menschliche Herz sich wirklich befindet – und was es braucht, damit es ein Schatz im Himmel ist bzw. wird.
Jesus spricht vom Schatz. Ein Schatz ist etwas Wertvolles, etwas Kostbares, etwas, das man sucht, schützt und bewahrt. Ein Schatz kann Gold sein, Edelsteine, Geld - aber eben nicht immer nur aus materiellen Dingen bestehen. Ein Schatz kann auch ein Mensch sein, ein Ideal, ein Traum, ein Lebensziel, eine Vorstellung von Glück. Was ist dein Schatz?
Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, werden wir feststellen: Jeder Mensch trägt einen solchen Schatz in sich. Und dieser Schatz bestimmt das eigene Leben. Wofür der Mensch lebt. Wofür er morgens aufsteht. Was ihn antreibt, was ihn bewegt, was ihn erfüllt.
Manche Menschen sagen: „Mein Schatz ist meine Familie.“ Andere: „Meine Gesundheit, mein Haus, meine Karriere, meine Sicherheit.“ Und wieder andere: „Meine Freiheit, mein Ansehen, mein Besitz.“
Wo Dein Schatz ist, ist Dein Herz
Diese Dinge sind nicht schlecht an sich. Aber Jesus stellt dem Menschen eine entscheidende Frage: Ist dein Schatz vergänglich oder ewig? Führt er dich zu Gott oder weg von ihm? Denn – so sagt Jesus – wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein.
In der Bibel ist das Herz mehr als ein Muskel, der Blut pumpt. Das Herz ist das Zentrum des Menschen. Der Ort, an dem wir entscheiden, lieben, glauben, zweifeln, hoffen und beten. Im Herzen begegnen Menschen ihrem Gott – oder sie verschließen sich ihm.
Und unser Herz geht dorthin, wo unser Schatz ist. Wenn der Schatz das Geld ist, wird das Herz an Geld hängen. Wenn der Schatz Ruhm ist, wird das Herz nach Anerkennung dürsten. Wenn der Schatz Gott ist, wird das Herz in ihm ruhen. Darum ist diese Frage so entscheidend: Was bestimmt mein Herz? Wohin ist mein Herz gerichtet?
Viele Menschen leiden heute unter innerer Zerrissenheit, unter Leere, Unruhe und Sinnlosigkeit. Vielleicht liegt es daran, dass ihr Herz an einem Schatz hängt, der nicht tragen kann. Der zerbricht. Der eben nicht ewig ist.
Sammelt die Schätze im Himmel
Denn alle irdischen Schätze – Geld, Macht, Schönheit, Besitz – sind vergänglich. Sie versprechen Glück, aber sie können es nicht halten. Sie blenden, aber sie können nicht erlösen. Sie geben kurzfristige Befriedigung, aber keine ewige Freude.
Musik: Ludwig van Beethoven - Wut über den verlorenen Groschen – Beethovens Meisterwerke: Wilhelm Kempf (Klavier)
Nur ein Schatz trägt ewig: Gott selbst.
Jesus spricht auch an anderer Stelle der Bibel bei Matthäus über die „Schätze im Himmel“ und die „Schätze auf Erden“. Er mahnt die Menschen eindringlich: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Rost sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen. Sammelt euch vielmehr Schätze im Himmel.“ (Mt 6,19–20)
Was sind das für Schätze im Himmel? Es sind die Früchte der Liebe. Die Werke der Barmherzigkeit. Die verborgenen Opfer. Die Treue im Kleinen. Das stille Gebet. Die Zeit, die wir mit Gott verbringen. Der Dienst am Nächsten. Die gelebte Gerechtigkeit. Das Zeugnis unseres Glaubens. Es ist ein Schatz, der nicht vergeht, weil er in Gott verwurzelt ist. Und dieser Schatz bringt Frieden, Freude, Freiheit – ein Herz, das in Gott ruht.
Franz von Assisi – ein Schatzsucher
Die Heiligen können Vorbilder auf diesem Weg sein. Sie haben verstanden, was es heißt, den wahren Schatz zu finden. Denken wir an Franziskus von Assisi – er war reich, beliebt, erfolgreich. Und doch war sein Herz unruhig, weil sein Schatz auf Erden war. Erst als er alles losließ, arm wurde, den Aussätzigen umarmte, Christus folgte, fand er das wahre Glück.
Oder Mutter Teresa: Sie lebte in einem der ärmsten Viertel der Welt. Kein Reichtum, kein Ruhm. Und doch strahlte sie eine Liebe und eine Freude aus, die Menschen in ihren Bann zog. Warum? Weil ihr Schatz im Himmel war – in Jesus, den sie in den Ärmsten der Armen sah.
Und denken wir an Maria, die Mutter Jesu. Sie hatte keine weltlichen Schätze. Aber sie hatte ein Herz, das ganz auf Gott ausgerichtet war: „Ich bin die Magd des Herrn“, sagte sie. Ihr Herz war da, wo ihr Schatz war – bei Gott. Und darum preisen sie alle Geschlechter selig.
Musik: J. S. Bach – Das wohltemperierte Klavier – Buch 1 Präludium Nr. 1 C-Dur BMV 846 - Glenn Gould, Klavier
Das Evangelium Jesu ist eine Einladung – ja, ein Weckruf. Jesus fragt die Menschen nicht: Wie viel besitzt du? Wie erfolgreich bist du? Sondern: Wo ist dein Herz? In dem Lied „Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde“ heißt es in der ersten Strophe: Der Herr wird nicht fragen: Was hast du gespart, was hast du alles besessen? Seine Frage wird lauten: Was hast du geschenkt, wen hast du geschätzt um meinetwillen.
Wenn man sich der Frage stellt, merken vielleicht manche Menschen, dass ihr Herz oft an Dingen hängt, die nicht ewig sind. Vielleicht erkennen sie, dass sie sich selbst verloren haben im Lärm der Welt, in der Jagd nach Geld, Anerkennung und Macht. Dann ruft Jesus ihnen heute zu: Kehre um! Richte dein Herz neu auf mich! Ich bin dein Schatz! In mir findest du Leben in Fülle!
Diese Umkehr beginnt im Gebet. In der Stille. In der Begegnung mit dem Wort Gottes. Im Sakrament der Versöhnung. In der Eucharistie – dort, wo Christus den Menschen entgegenkommt, die sich ihm öffnen. Wer ihm das Herz öffnet, wird Verwandlung bei sich spüren. Jesus macht deutlich, dass wahre Freude nicht darin liegt, viel zu besitzen – sondern darin, viel zu lieben.
Was in der Liebe geschieht, bleibt in Erinnerung
Jesus sagt: „Sammelt euch Schätze im Himmel.“ Warum? Weil das die einzigen Schätze sind, die niemand nehmen kann. Kein Dieb, keine Inflation, kein Schicksalsschlag, kein Tod.
Nur was der Mensch in der Liebe tut, bleibt. Nur das trägt über den Tod hinaus. Nur was der Mensch aus Hingabe, aus Glaube, aus Vertrauen lebt, wird im Leben „Gewinn“ bringen.
Die Frage „Wo ist dein Schatz?“ ist daher keine moralische Belehrung. Sie ist eine Liebeserklärung Gottes an jeden Menschen. Er will das Herz des Menschen. Er will jeder und jedem zeigen, dass er unendlich kostbar ist. Und dass jeder Mensch in seinen Augen ein Schatz ist. Ja, jeder Mensch ist ein Schatz Gottes! Dafür hat er seinen Sohn gegeben. Jesus ist gekommen, nicht um Gold zu sammeln, sondern um Herzen zu gewinnen.
Am Ende steht die Entscheidung. Jeder Mensch ist eingeladen, heute - jetzt - neu zu entscheiden: Wem gehört mein Herz? Wo ist mein Schatz? Und so kann der gläubige Mensch von ganzem Herzen sprechen:
Herr, du bist mein Schatz.
Du bist mein Licht.
Du bist mein Leben.
Du bist mein Glück.
Wo du bist, da ist mein Herz.
Bleib du in meinem Herzen – heute und in Ewigkeit.
Musik: Claude Debussy - Danse sacreé - Orchestre National De L'ORTF, Jean Martinon
Musikauswahl: Regionalkantor Ulrich Moormann, Fulda