hr2 MORGENFEIER
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Hieke, Prof. Dr. Thomas

Ein Sendung von

Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

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Gutes tun

Es gibt einige Dinge, die ich gern machen, lernen und können würde. Dazu gehört das Auswendiglernen von Gedichten. Ich bin darin furchtbar unbegabt, ich kann mir ganz schlecht etwas auswendig merken. Das ging mir schon in der Schule so. Mit Müh und Not hab ich den „Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ auswendig gelernt – nur, um ihn bald wieder zu vergessen. Das ist sehr schade, denn in diesem Gedicht von Theodor Fontane aus dem Jahr 1889 geht es um wichtige Dinge: um Geiz und Gerechtigkeit, um Großzügigkeit und Gutes-Tun. 

Dort wächst jetzt ein neuer Birnbaum

Theodor Fontane erzählt in dem Gedicht die Geschichte des freigiebigen Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. Der verschenkt die Birnen des Baumes in seinem Garten an vorbeikommende Kinder. Sein Sohn dagegen ist geizig und hält nach dem Tod des Vaters den Garten und den dortigen Birnbaum unter Verschluss. Doch der alte Ribbeck hat sich eine Birne in sein Grab legen lassen. Aus dieser wächst auf dem Friehof jetzt ein neuer Birnbaum. Er trägt nach etlichen Jahren schöne Früchte und lädt die Kinder dazu ein, von den Birnen weiterhin kostenfrei zu essen. Das Gedicht von Theodor Fontane endet mit den Zeilen: „So spendet Segen noch immer die Hand / Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.“ 

"Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es.“

So schön das Gedicht ist – ich kann es nicht auswendig behalten. So suche ich nach einem kürzeren Gedicht, das ich mir merken kann. Und das ähnlich vom Gutes-Tun und von Gerechtigkeit spricht. Ich habe eines gefunden. Es heißt „Moral“, stammt von Erich Kästner und ist ganz kurz. Das Gedicht geht so: „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es.“ [2:03] 

Musik 1: aus Johann Sebastian Bach, Kantate „Brich dem Hungrigen dein Brot“ / 1. Coro: Brich dem Hungrigen dein Brot, BWV 39 [2:59] (CD: Cantatas BWV 38-40, Bach-Ensemble, Helmuth Rilling, Track 7, 0:00 – 2:59) 

„Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es!“ – Dieses Gedicht von Erich Kästner ist so kurz und einprägsam, dass es viele Menschen kennen. Es steckt sehr viel drin, oder, anders gesagt: Man kann darin sehr viel sehen und herauslesen. 

Das war alles nichts Gutes...

Da ist die erste Hälfte, die eher niederschmetternd ist: „Es gibt nichts Gutes“. Wenn Erich Kästner das kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren in einem Gedichtband schrieb, ist das in beklemmender Weise verständlich: Dieser Krieg hatte nichts Gutes, die Gewaltherrschaft der Nazis und die Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden und vieler anderer Menschen, die nicht in die Ideologie passten: Das war alles nichts Gutes. Viele Menschen waren gebrochen und verzweifelt: Es gibt nichts Gutes. 

Menschen müssen es schmecken und kosten

Außer: Ja, doch, es gibt noch Gutes. Wenn Menschen anderen Gutes tun, wenn sie großzügig und gerecht sind, freigiebig und liebevoll – und das auch zum Anfassen und Reinbeißen, wie beim alten Herrn von Ribbeck auf Ribbeck, der seine Birnen an arme Kinder verschenkte. Das Gute muss sich anfühlen, Menschen müssen es schmecken, kosten. Dann ist es was Gutes. [1:30] 

Musik 2:  aus Johann Sebastian Bach, Kantate „Brich dem Hungrigen dein Brot“ / 1. Coro: Brich dem Hungrigen dein Brot, BWV 39 [2:16] (CD: Cantatas BWV 38-40, Bach-Ensemble, Helmuth Rilling, Track 7, 2:59-5:15)  

Tausend Gründe die dagegensprechen

Menschen müssen das Gute schmecken, kosten, fühlen – dann merken sie: Es ist etwas Gutes. Wäre das nicht ganz einfach? Jemandem etwas Gutes tun, so dass die Person es richtig merkt, schmeckt, fühlt? Hm, ja, nein, doch, vielleicht – aaaaber? Im Internet kann ich mir problemlos lustige und ernste Ausreden formulieren lassen – warum es gerade jetzt, in diesem Moment, mal ausnahmsweise nicht geht, dass ich gut handele oder jemandem etwas Gutes tue. Die Umstände lassen es nicht zu, und die Bürokratie, Sie wissen schon. Eigentlich möchte ich ein herzensguter Mensch sein, wenn, ja, wenn – da nicht tausend Gründe dagegensprechen. Ich kann es nicht – angeblich. 

So spricht er jede einzelne und jeden einzelnen an

Das wusste schon die Bibel. Da gibt es eine Stelle, die allerlei Ausreden aufzählt, warum sich die Israeliten angeblich nicht an das Gebot Gottes halten können – und dann werden diese Ausreden alle widerlegt. Gottes Gebot, das Gute zu tun, übersteigt nicht die Kraft der Menschen, du kannst es halten. So spricht Mose jede einzelne und jeden einzelnen an:

„Dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. Es ist nicht im Himmel, sodass du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, sodass du sagen müsstest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können? Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.“ (Deuteronomium 30,11–14, Einheitsübersetzung) [2:00] 

Musik 3: Johann Sebastian Bach, Kantate „Brich dem Hungrigen dein Brot“ / Choral „Selig sind, die aus Erbarmen sich annehmen fremder Not“, BWV 39 [1:15] (CD: Cantatas BWV 38-40, Bach-Ensemble, Helmuth Rilling, Track 13, 0:00-1:15)  

Nicht dauernd nur den eigenen Vorteil sehen

„Das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.“ So spricht Mose im Auftrag Gottes in der Bibel zum Volk Israel. Und was ist dieses Wort? Es ist das Gebot, auf das Gott die Israelitinnen und Israeliten – und alle, die an Gott glauben – verpflichtet. Es ist – wie Mose schon sagt – nichts Schweres, das erst jemand vom Himmel holen müsste oder von jenseits des Meeres. Beim Propheten Micha findet sich der Satz:

„Es wurde dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Ewige von dir erwartet: das Rechte tun, Nachsicht mit anderen haben und bewusst den Weg mit deinem Gott gehen.“ (Micha 6,8, BasisBibel)

Das Rechte tun: gerecht handeln ist damit gemeint. Nachsicht haben mit anderen: also großzügig sein. Bewusst den Weg mit deinem Gott gehen: Nicht dauernd nur den eigenen Vorteil, den eigenen Profit vor Augen haben, sondern mit Gott gehen. Nicht ich bin das Maß aller Dinge. Gott hat alle so großzügig und freigiebig mit Fähigkeiten und Können und Klugheit und auch mit konkreten Gütern ausgestattet: Will ich das alles nur für mich behalten? Wie der junge Herr Ribbeck, der knausert und spart? 

„Mach’s ganz genau so“, rät Jesus

Es gibt nichts Gutes. Sagt Erich Kästner. Außer: Man tut es! Im Grunde sagt das alles: Einfach tun. Nächstenliebe zum Beispiel. Ja, aber – schon kochen tausend Einwände hoch. Ich kann doch nicht etwa alle lieben!? Oder vielleicht doch? Oder eben gerade die Person, die es jetzt am nötigsten hat? Es gibt dazu eine alte Geschichte, die der Evangelist Lukas von Jesus erzählt. Einer von den Männern, die sich mit dem Wort Gottes gut auskennen, wollte Jesus prüfen. Er fragt Jesus: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?“. Jesus fragt ihn zurück: „Was sagt denn die Heilige Schrift?“ Dann zählt der, der das Gesetz Gottes kennt, die zwei wichtigsten Gebote auf: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen. Und du sollst deinen Nächsten lieben – wie dich selbst.“ Jesus findet, dass diese Antwort richtig gut ist. „Mach’s genau so“, rät Jesus (vgl. Lukas-Evangelium 10,28). Ha, aber wer ist denn mein Nächster überhaupt, das ist doch die eigentliche Frage. Daraufhin erzählt Jesus eine sehr berühmte Geschichte: 

Wer ist denn mein Nächster?

„Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.“ (Lukas-Evangelium 10,30–35 Einheitsübersetzung)

Jesus fragt nun zurück, aber nicht: Wer ist mein Nächster? sondern anders: Wer von den dreien in der Geschichte ist für den, der von Räubern überfallen wurde, zum Nächsten geworden? – Die Antwort ist klar: Der barmherzig an ihm gehandelt hat. – Dann geh, sagt Jesus, und handle du genauso! [4:15] 

Musik 4: Johann Sebastian Bach, Kantate „Du sollt Gott, deinen Herren, lieben“ / 4. Recitativo: „Gib mir dabei, mein Gott! Ein Samariterherz“, BWV 77 [1:20] (CD: Cantatas BWV 77-79, Bach-Ensemble, Helmuth Rilling, Track 4) 

Nicht gut!

„Dann geh und handle du genauso!“ Das sagt Jesus am Ende des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter. Klingt leichter gesagt als getan. Der Priester und der Levit sind an dem armen Kerl, der unter die Räuber gefallen war, vorbeigegangen – und hatten dafür sehr gute Gründe! Der Priester konnte dem halbtot daliegenden Menschen nicht helfen, er hätte sich kultisch unrein gemacht und dann seine Arbeit, den Gottesdienst am Tempel, nicht mehr verrichten können. Der Levit ebenso. Sie sehen den Verletzten – und gehen vorüber. Ihr eigener Weg, ihr Tun, ihr Business ist ihnen wichtiger. In dieser Geschichte, die Jesus im Lukasevangelium erzählt, ist nichts Gutes: Einer wird von Räubern bestohlen und halbtot geprügelt. Nicht gut. Zwei Menschen kommen vorbei, sehen, helfen nicht. Nicht gut. Ein Fremder kommt vorbei. Auch nicht gut. Denn der „Samariter“, der gehörte zu den „anderen“, mit denen man nichts, aber auch gar nichts zu tun haben wollte. Die Fremden –die sind böse und helfen bestimmt nicht. Nicht gut.

Er geht hin – und hilft ihm

Und dann geschieht das einzig Gute an der Geschichte: Der Samariter, der Fremde, der Andere, er tut es. Was er tut, wird mit viel Liebe zum Detail ausführlich beschrieben. Da steht nicht einfach: Er half ihm. Punkt. Sondern es wird genauestens erzählt, was der Samariter alles tut: Er hat Mitleid, lässt den Menschen in Not also an sich emotional heran. Er geht hin – und macht keinen Bogen um ihn. Er versorgt die Wunden mit eigenem Material. Er setzt noch mehr Mittel ein und sorgt für Herberge. Nichts Gutes – außer: Man tut es. 

Ist jemand anderer zuständig?

Dieses Gleichnis erzählt Jesus auch all denen, die glauben, Nächstenliebe hätte etwas mit der eigenen Familie und dem eigenen Volk zu tun. Tatsächlich geistern seit letztem Jahr absurde Auslegungen durchs Internet: Rechtspopulistische Parteien in Europa und den USA wollen die „Nächstenliebe“ auf die eigene Gruppe beschränken. Erstmal die eigenen Leute versorgen, die eigene Nation groß machen – dann, vielleicht, anderen helfen. Wenn Jesus noch im Grabe wäre, würde er sich vor Abscheu umdrehen.

Wer ist der Nächste? Jesus sagt es im Gleichnis unmissverständlich: Der, der dir vor die Füße fällt und deine Hilfe braucht, im Hier und Jetzt. Was dann angesagt ist, sind nicht Fragen: Welche Nationalität? Reichen die Ressourcen? Ist jemand anderer zuständig? Das ist alles nichts Gutes. Das Gute, das angesagt ist, ist zu tun. Material ist einzusetzen, Vorsorge ist zu treffen. Damit der halbtote Mensch gerettet wird und wieder leben kann. 

Zum Beispiel die Spende noch überweisen

Theodor Fontanes „Herr von Ribbeck“, Erich Kästners Gedicht, Moses Ermutigung und Jesu Gleichnis – es läuft alles aufs Gleiche raus: Mit ein paar Ideen und Kreativität, mit dem Willen zum Zupacken kann jeder Mensch das Gute tun. Die Birne im Grab, die zum Birnbaum auf dem Friedhof wird und Kindern Gutes tut – wer so einfallsreich ist, wird für andere zum Segen. Entscheidend ist das Tun, das lernt man schon im Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein. Weggehen, nach anderen Zuständigen suchen, nach Ausreden, warum es jetzt gerade nicht passt, oder einfach die Fremden liegen lassen, weil es ja Fremde sind – all das ist nichts Gutes. Gutes – tut es! Zum Beispiel doch die Spende überweisen, den alten Nachbarn mal besuchen, doch beim Müllsammeln mitmachen, sich im Elternbeirat engagieren, …

Kästner hat immer noch recht und trifft es am kürzesten: Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es! [4:44] 

Musik 5: Johann Sebastian Bach, Kantate „Du sollst Gott, deinen Herren, lieben“ / 6. Choral: „Herr, durch den Glauben wohn in mir“, BWV 77 [1:08] (CD: Cantatas BWV 77-79, Bach-Ensemble, Helmuth Rilling, Track 6, 0:00-1:08)