hr2 MORGENFEIER
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Krebs, Stephan

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Langen

Aufwachsen mit einem Familiengeheimnis - Seth, der jüngere Bruder von Kain und Abel

Musik

Die Bibel läßt uns tief in die Gründe und Abgründe des Lebens schauen. In kurzenGeschichten überliefert sie uns uralte Lebenserfahrungen. Ich möchte ihnen heute Morgen so eine Geschichte erzählen. Sie handelt von einem jungen Mann. Um seine eigene Bestimmung zu finden, muss er zunächst das Geheimnis seiner Familie lüften. Er heißt Seth. Kaum jemand kennt ihn. Berühmt sind nur seine Brüder. Aber das weiß er am Anfang der Geschichte selber noch nicht.

Seth hatte schon als kleiner Junge gespürt, dass es in seiner Familie ein unseliges Geheimnis geben müsse. Die traurigen Augen seiner Mutter, die geheimnisvollen Spaziergänge seines Vaters. Und dann war da noch der ältere Bruder- ‚ein Eigenbrötler. Der wohnte weit weg und war vielälter als er. Sie alle - und ihn - verband ein Geheimnis. Es war da, obwohl niemand darüber ein Wort verlieren mochte. Und irgendwann war Seth alt und energisch genug, um dieses Rätsel lösen zu wollen.

Sein Vater gibt ihm die Gelegenheit dazu. Wie an jedem Samstagabend verlässt er das Haus - allein und ohne zu sagen wohin. Diesmal schleicht ihm Seth nach. Der Vater geht eine ganze Weile. Sein Ziel ist ein Steinhaufen, der versteckt zwischen einigen Büschen liegt. Seth kauert hinter einem Busch und sieht den Vater, wie er dort steht — mit gesenktem Kopf. Ab und zu bewegen sich seine Lippen. Seth wartet, bis der Vater wieder nach Hause gegangen ist. Dann geht er hin. Er findet drei größere Felsplatten vor, hintereinander gelegt, zusammen etwa so lang wie ein Mensch, eingeritzte Zeichen darauf. Ein Grab. Seth erschrickt und läuft zurück. Drei Tage bleibt er mit seiner Entdeckung alleine.

Auf dem Acker arbeitet er schweigend neben dem Vater her. Dann, als sie abends beieinandersitzen, sagt er zu seinen Eltern: „Ich habe das Grab gesehen!“ Die Mutter zuckt zusammen. Sie gucken sich an und nicken sich zu. Stille. Dann sagt der Vater: „Seth, in dem Grab liegt dein Bruder.“ Seth erschrickt: „Mein Bruder? Habe ich, - hatte ich noch einen Bruder?“ „Ja“, nickt der Vater. „Wann ist er gestorben?“, fragt Seth. „Ein Jahr, bevor du geboren wurdest!“ „Wie alt war er?“ Der Vater antwortet: „Etwas jünger als dein älterer Bruder.“ „Und wie ist er gestorben?“

Die Frage bleibt offen im Raum stehen. Dann gibt sich der Vater einen Ruck und erzählt: „Es war im Spätsommer. Die Sonne schien mild auf die abgeernteten Felder. Alles war so schön und friedlich. Unsere beiden Söhne sind losgezogen. Du warst damals ja noch nicht geboren. Der eine wollte nach seiner Schafherde gucken. Der andere noch Geräte vom Feld holen. Der Tag verging, es wurde dunkel, aber sie kamen nicht zurück. Wir haben uns natürlich Sorgen gemacht.

Wir haben gerufen — aber nichts. Am nächsten Morgen haben wir sie gesucht und haben den jüngeren auch gefunden. Blutüberströmt. Tot. Der andere kam erst viel später wieder. Eine offene Wunde auf der Stirn. Aschfahl die Haut, mit einem gehetzten Blick. Ein veränderter Mensch. Er hat nur schnell seine Sachen gepackt, dann ist er gegangen. Wir haben nie erfahren, was wirklich passiert ist.

Seth fragt: „Wie haben die beiden denn zueinander gestanden?“ „Eigentlich ganz normal“, sagt die Mutter, „wie Geschwister eben so sind. Sie haben oft wunderbar miteinander gespielt -- zwei süße Jungs. Na klar, das Wörtchen “Ich auch!“ hatte der Kleine schnell gelernt. Und wie oft haben sie aus nichts einen Streit angefangen: wer als erster was hatte, und wer wen zuerst gehauen hat. Aber das konnten sie dann auch schnell wieder vergessen. Später hat ihnen der Vater unterschiedliche Arbeiten gegeben.“

„Ja“, ergänzt der Vater, „jeder sollte seinen eigenen Erfolg haben. Sie sollten sich nicht ständig vergleichen. Ich wollte nicht, dass einer der Verlierer und der andere der Gewinner ist. Deshalb habe ich dem Älteren die Feldarbeit anvertraut und dem Jüngeren die Schafherden. Aber, wer wollte, konnte schon sehen, dass es den Tieren besser ging als den Äckern“

Seth fragt weiter: „Habt ihr denn beide geliebt?“ Die Mutter sagt: „Oh ja, die beiden kleinen Kerlchen! Kinder sind ein wunderbares Geschenk Gottes! Später wurde es schwieriger. Die beiden waren so unterschiedlich. Der ältere war immer etwas ungeschickter. Nicht so gefällig wie der andere. Nicht so freundlich. Wir haben versucht, beide gleich zu behandeln. Beide zu loben und zu lieben. Aber so richtig geschafft haben wir es wohl nicht.“

Der Vater ergänzt unwillig: „Man kann ein Kind nur loben, wenn es etwas Gutes getan hat. Und wie soll man einem Kind seine Liebe zeigen, wenn es einen ständig provoziert!“

Musik

Am nächsten Morgen macht sich Seth auf den Weg. Nach drei Tagereisen kommt er in Henoch an. Hier wohnt sein Bruder. Seth sieht zum ersten Mal eine Stadt mit hohen Häusern. Er geht durch die Gassen und staunt: Die Menschen hier sehen die Felder nicht, wo ihr Korn wächst? Und sie kennen sich gegenseitig nicht! Seth muss eine Weile herumfragen, bis er seinen Bruder findet. Sie begrüßen sich etwas steif.

Seth hat Zeit. Tagelang bleibt er bei seinem Bruder und hilft ihm bei der Arbeit. Abends sitzen sie auf dem Dach des Hauses. Über ihnen ein prächtiger Sternenhimmel. Da fasst sich Seth ein Herz und sagt: „Ich weiß, dass wir noch

einen Bruder haben.“ Die dunkle Narbe auf der Stirn des Bruders leuchtet auf. Er sagt: „So, weißt du das jetzt auch. Und! Was haben unsere Eltern darüber erzählt?“ Seth fragt dagegen: „Was ist damals passiert?“

Der Bruder zögert. Doch er spürt, dass sein kleiner Bruder offen ist. Er ist ohne Verurteilung zu ihm gekommen. Erholt tief Luft, dann redet er los: „Ich habe ihn erschlagen. Im Zorn. Und ich habe bitter dafür bezahlt. Niemand hat so geweint über ihn wie ich. Doch es ist nicht mehr gut zu machen. Nun muss ich damit leben. Und das ist entsetzlich.“

Seth fragt: „Warum ist das passiert?“ Der Bruder antwortet: „Er war einfach irgendwie cleverer. Nein, nicht stärker, nicht fleißiger, aber erfolgreicher. Er hat immer den richtigen Ton getroffen. Er konnte sich bei den Eltern besser in Szene setzen. Schon vom ersten Tag an. Er war ein Musterknabe. Aber ich sage dir, niemand weiß, wer er wirklich war. Jedenfalls, neben ihm hatte ich keine Chance. Jede Situation konnte er so steuern, dass er die Nase vorne hatte.

Ich hab’ mir Mühe gegeben. Aber bei mir war alles immer etwas mickriger als bei ihm. Ist ja eigentlich egal. Man findet immer einen, der mehr hat, der glücklicher ist oder der einfach besser ist. Diese ganze Vergleicherei macht nur neidisch und dann unglücklich. Entscheidend ist doch letztlich, was man aus sich macht, mit sich und seinen Möglichkeiten. Aber so klug war ich damals noch nicht. Ich musste immer vergleichen — und verlieren.

Jedenfalls: Seine Herde war in dem Jahr ganz schön gewachsen. Meine Ernte war nicht besonders gut gewesen. Aber schlimm war es auch nicht. Ich konnte dankbar sein. Wir haben beide einen Steinhaufen gemacht und ein Freudenfeuer angezündet. Er war so gut gelaunt. Und ich? Ich konnte mich einfach nichtfreuen. Mein Feuer wollte nicht recht brennen. Dafür hat es lichterloh in mir gebrannt. Mir ging es nicht mehr nur um eine Ernte oder ein paar Tiere. Es ging um mich selber, um mein ganzes Leben. Ich kam mir so klein vor. Mir war, als würde Gott nur auf meinen Bruder schauen. Und von mir wollte er nichts wissen.“

„Gott?“ fragt Seth erstaunt. „Ja, Gott. Es war ein elendes Gefühl, Ich hatte es genau vor Augen, wie er sich verächtlich von mir wendet. Und ich stand da - mit leeren Händen, allein gelassen, auf meinem Feld.“

Seth staunt: „Du hast deinen Bruder getötet, weil du gedacht hast, du wärest Gott gleichgültig? Weil du Gottes Liebe nicht spüren konntest? Bist du sicher, dass es Gott war, der sich da abgewendet hat?“ „Nein“, sagt der Bruder. „Und ja. Ich weiß es nicht. Weißt du, ob und wie uns Gott ansieht? Weißt du, ob er uns gut oder schlecht, stark oder schwach macht?

Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, warum dem einen die Welt zu Füßen liegt und der andere rackert und ackert für nichts und wieder nichts. Bin ich selber schuld daran? Bin ich es, der die Ernte gelingen lässt? Ich weiß nur eins: damals wurde ich ungeheuer zornig auf den Bruder. Eigentlich auf Gott. Aber der war mir zu groß dafür. Den Bruder kann man wenigstens packen. Gott nicht.

Aber Gott kann uns packen. Er weiß, was in uns vorgeht. Und er hat mich gewarnt. Und ich habe auf ihn gehört, zumindest an diesem Tag. Ich habe innerlich gekocht, aber ich habe mich zusammengerissen. Und nicht zum ersten Mal. Wir sind nach Hause gegangen. Wir haben miteinander geredet. Und alles schien normal zu sein. Aber als wir am nächsten Tag noch mal an die Stelle kamen, da hat er über mein Erntefeuer gelästert. Da war’s vorbei. Ich habe einen Stein gepackt und zugeschlagen. In diesem kurzen Moment kam ich mir wunderbar groß vor.

Nacheiner Pause fährt er fort: „Was hätte ich denn tun sollen? Ewig dulden? Ewig ducken?“ Seth antwortet: „Nein. Nicht ewig dulden. Aber auch nicht töten. Es muss einen dritten Weg geben. Und der muss mit Gott zu tun haben. Vielleicht hättest du mit ihm reden können. Du hättest fragen können, warum Gott so zu dir ist. Und ob Gott so zu dir ist. Kann ja sein, dass du ihm deinen Misserfolg einfach nur in die Schuhe geschoben hast.“

Musik

Seth schweigt. Der Bruder sitzt da, schaut in die Ferne und nickt leicht mit dem Kopf. Dann erzählt er einfach weiter: „Der Moment danach war der schrecklichste. Mein Bruder war nur noch ein seelenloser Körper. Und ich sein Mörder. Ich rannte los. Nur weg. Doch einer blieb mir immer auf den Fersen: Gott.

Ich konnte laufen so viel ich wollte. Er war immer und überall da. Es war, als wäre er in mir. Und er fragte mich nach meinem Bruder. Und ich Idiot wollte alles abstreiten. „Soll ich meines Bruders Hüter sein? Ich dachte, wenn ich das nur häufig genug behaupte, dann glaube ich irgendwann selber daran. Aber so war es nicht.

Gottes Stimme stellte mich gnadenlos. Nein, nicht gnadenlos. Gnadenlos war nur die Beweisaufnahme: Brudermord. Die Strafe hieß dann nicht „Leben gegen Leben“. Im Gegenteil. Gott stellte mich unter seinen ausdrücklichen Schutz. Bis heute. Doch Zuhause konnte ich nicht mehr bleiben. Es war unerträglich, den Eltern unter die Augen zu treten. Jeder Baum, jeder Felsen erinnerte mich an den Bruder. Jetzt lebe ich hier — in der Stadt. Unter vielen Menschen. Hier kann einer wie ich am besten leben. Hier ist man nur das, was man aus sich macht. Anderes ist schwer, immer etwas aus sich zu machen.

Manchmal bin ich leer — und einsam.“ Das Wort EINSAM klingt lange nach. Dann fragt Seth: „Wo ist Gott in deinem Leben?“ „Gott?“ sagt der Bruder, „Gott ist da - und doch weit weg. Ich kann nicht ohne ihn. Und ich kann nicht mit ihm. Ich stehe unter seinem Schutz. Und ich verstehe zu wenig von ihm.

Seth fragt: „Und er? Liebt er dich?“ Erstaunt fragt der Bruder zurück: „Wer kann einen Brudermörder denn lieben!?“ Seth sagt: „Gott — und ich. Denn ich bin und ich bleibe dein Bruder. Nein, nicht was du getan hast, aber dich liebe ich. Und ich glaube, jetzt mehr als vorher.“ Seth ist selbst erstaunt über das, was er da sagt. Aber er spürt, dass es fest und klar aus ihm herauskommt. Und dass er es genauso spürt.

Musik

Beim Abschied liegen sich die Brüder lange in den Armen. Auf dem Weg nach Hause geht Seth seine Familiengeschichte noch einmal durch. Die Geschichte von Adam und Eva, seinen Eltern. Und die Geschichte von seinen Brüdern, Kain und Abel.

Seth ist innerlich zutiefst aufgewühlt. Mit Schrecken stellt er sich vor, wie Kain den Stein packt und den Abel erschlägt. Rätselhaft erscheint ihm Gott. In vielen Gesichtern hat sich Gott gezeigt. Mal scheint er kaltblütig das Schicksal zu verteilen. Hatte er wirklich den Kain verstoßen? Dann wieder gibt er Ratschläge und Warnungen. Dann ist er der gnädige Richter, der den Schuldigen beschützt. Und zuletzt ist er wie ein übermenschlicher Vater, der den Brudermörder zu lieben vermag und ihm eine neue Chance gibt. Noch ist Kains Leben nicht ganz verpfuscht, denkt Seth trotzig.

Dann schweifen seine Gedanken zu seinen Eltern. Jetzt versteht er die traurigen Augenseiner Mutter. Und die wortlose Melancholie seines Vaters. Sie haben zwei Söhne verloren, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Und plötzlich bleibt Seth wie angewurzelt stehen. Er begreift, dass er selbst etwas damit zu tun hat. Er ist ein Jahr danach geboren worden. Ist er der Ersatz für den toten Abel? Seth, sein Name, klingt danach.

Er wird trotzig. Nein, ein Ersatz will er nicht sein. Er ist er und kein anderer. Dann denkt er weiter: Seine Eltern haben sich neu auf das Wagnis des Lebens eingelassen. Sie sind nicht versackt in Trauer und Selbstmitleid. Sie haben ihn bekommen. Nicht als Ersatz sondern als Hoffnungsträger. Er ist ihr Hoffnungsträger für eine andere, eine friedliche Zukunft! Wo die Menschen andere Wege finden, mit Neid und Ungerechtigkeit umzugehen.

Seth bewundert den Mut und die Kraft seiner Eltern. Und er denkt: Es muss einen dritten Weg geben zwischen Verlieren und Gewinnen, zwischen Opfer und Täter. Den will ich finden. Was für eine Aufgabe, durchzuckt es ihn. Dann wird ihm klar: Es ist die Aufgabe des Menschen überhaupt. Seth ist verwirrt. Er macht ein paar zögerliche Schritte, bleibt wieder stehen, geht weiter. Dann hat ihn sein neues Ziel erfüllt. Mitfesten Schritten geht er seinen Weg.

Musik