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Eine Sendung von

Pfarrer, Berlin

"Wie hält er's mit der Religion?" - Zum 200. Geburtstag von Georg Büchner

"Wie hält er's mit der Religion?" - Zum 200. Geburtstag von Georg Büchner

Der junge Dichter Georg Büchner war ein begeisterter Wanderer. In einer Zeit, wo die Autostraßen noch nicht die Landschaft zerschnitten, hat er weite Distanzen hinter sich gebracht. Von Darmstadt nach Straßburg, der Bergstraße entlang. Von Darmstadt über Frankfurt nach Gießen. Von Gießen nach Butzbach, wo sein Freund lebte, der evangelische Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig: all das waren für ihn ganz normale Entfernungen – zu Fuß! Im Sommer 1833, also kaum 20-jährig, unternahm er eine große Vogesenwanderung. In Straßburg hatte er bis dahin Medizin studiert und seine Verlobte, Minna Jaegle, eine Pfarrerstochter, kennen und lieben gelernt. Mit seinen Studienfreunden macht er eine große Vogesentour. Seinen Eltern berichtet er am 8. Juli 1833 über diese Wanderung:

„Es war gegen Sonnenuntergang, die Alpen wie blasses Abendroth über der dunkel gewordenen Erde. Die Nacht brachten wir in einer geringen Entfernung vom Gipfel in einer Sennerhütte zu.(…) Bis Sonnenaufgang war der Himmel etwas dunstig, die Sonne warf einen rothen Schein über die Landschaft. Ueber den Schwarzwald und den Jura schien das Gewölk wie ein schäumender Wasserfall zu stürzen, nur die Alpen standen hell darüber, wie eine blitzende Milchstraße.“

Musik: Richard Strauss, Eine Alpensinfonie, Wiener Philharmoniker unter Ch. Thielemann

Da ist er also schon, der junge, sprach- und bildgewaltige Georg Büchner. 19 Jahre alt, vier Jahre werden ihm noch bleiben, bis er früh verstirbt. In diesem Brief klingt schon vieles von der Romantik an, die seine späteren Werke auszeichnen wird. Die Welt wird ihm zu einem Bild, einer Metapher: Die Alpen ein Abendrot, die Wolken ein Wasserfall, die Alpen die Milchstraße. Das sind die Sprachbilder, die ich auch nach 30 Jahren Büchner-Lektüre faszinierend finde. Im Jubiläumsjahr 2013, wo in Hessen und weit darüber hinaus des 200. Geburtstages Georg Büchners gedacht wird, findet vieler Orten eine vertiefte Büchner-Lektüre statt.

Ob in Goddelau im hessischen Ried, wo er geboren wurde; ob in Darmstadt, wo er auf dem heutigen Ludwig-Georgs-Gymnasium seine Schulbildung genoss; ob in Marburg an der Lahn, wo in den letzten Jahrzehnten die neue maßgebliche Ausgabe seiner Werke in mühsamer Kleinstarbeit entstand. Und mitten in all den Fragen um sein Werk und seine Deutung eine zentrale Hinsicht: Wie hielt es denn eigentlich dieser junge Dichter mit der Religion? Was bedeutete ihm christlicher Glaube? Was hielt er gar von seiner Kirche?

Da tut sich mitten im Jubiläumsjahr eine Kluft auf: Auf der einen Seite die herkömmliche Interpretation Büchners. Sie will ihn vollständig vom christlichen Glauben lösen. Und auf der anderen Seite eine neue Interpretation, vertreten etwa in der großen Biographie des Mainzer Germanisten Hermann Kurzke. Sie kann durchaus etwas mit einem romantischen und zugleich christlich geprägten Georg Büchner anfangen.

Musik: Felix Mendelsohn Bartholdy, Kyrie, d-moll, Chamber Choir of Europe, Leitung Nicol Matt

Wie so oft, sind es vielleicht gerade die Anfänge im Leben eines jungen Menschen, die weiter helfen können. Auch, wenn man verstehen will, ob und was Georg Büchner mit dem christlichen Glauben angefangen hat.  Schon der siebte Brief im Leben des jungen Studenten Georg Büchner, der uns überliefert ist, geschrieben an die Eltern Anfang Januar 1833 aus seinem Studienort Straßburg, verrät uns Folgendes:

“Auf Weihnachten ging ich morgens um vier Uhr in die Frühmette ins Münster. Das düstere Gewölbe mit seinen Säulen, die Rose und die farbigen Scheiben und die knieende Menge waren nur halb vom Lampenschein erleuchtet. Der Gesang des unsichtbaren Chores schien über dem Chor und dem Altare zu schweben und den vollen Tönen der gewaltigen Orgel zu antworten. Ich bin kein Katholik und kümmere mich wenig um das Schellen und Knieen der buntscheckigen Pfaffen, aber der Gesang allein machte mehr Eindruck auf mich, als die faden, ewig wiederkehrenden Phrasen unserer meisten Geistlichen, die Jahr aus Jahr ein an jedem Weihnachtstag meist nichts Gescheidteres zu sagen wissen, als, der liebe Herrgott sei doch ein gescheidter Mann gewesen, daß er Christus grade um diese Zeit auf die Welt habe kommen lassen.“

Musik: Cesar Franck, Psalm 150, Bachchor Mainz und das L’arpa Festante, Leitung Ralf Otto

Dieses frühe Zeugnis des jungen Georg Büchner über seinen Besuch im Straßburger Münster ist schon ein bedeutender Ausdruck seiner Religiosität. Zunächst muss man festhalten: Auch der gerade 19-jährige junge Mann hatte vielerlei Kontakte zu Theologie und Kirche. Er hatte seine besten Jahre in Straßburg, seine „Studentenbude“, in einem evangelischen Pfarrhaus. Das hatte zunächst vielleicht auch ganz praktische Gründe, denn die Gastgeber waren ein weitläufiger Teil der mütterlichen Verwandtschaft. Doch Georg genoss das Leben in diesem gebildeten Pfarrhaus in der Freundschaft mit den Söhnen, in Literaturzirkeln, schließlich sogar in der Verlobung mit der Tochter des Hauses Wilhelmine, genannt Minna. Und wo Kenntnis wächst, da wächst auch Achtung. Einen lupenreinen Atheisten jedenfalls wird man aus Georg kaum machen können.

Außerdem ist interessant: Georg Büchner begibt sich am Ersten Weihnachtsfeiertag um vier Uhr früh ins Straßburger Münster, was wohl nur wenigen jungen Erwachsenen einfällt, damals und heute. Irgendetwas zieht ihn an diesen starken kirchlichen Ort. Es ist nicht die Liturgie, die ihm als Protestanten wenig sagt und fremd erscheint. Es ist auch nicht die Predigt, die er mit Hohn und Spott bedenkt. Sondern es sind zwei fast mystische Elemente: Der Raum des Straßburger Münsters zu dieser Nachtstunde und die Wirkung der Kirchenmusik: des unsichtbaren Chores und der gewaltigen Orgel.

Musik: Siegfried Karg-Elert, Nun danket alle Gott, Orgel Peter Hurford

Den jungen Georg Büchner faszinieren der Kirchenraum und die Kirchenmusik; Liturgie und Predigt sind ihm eher fremd. 180 Jahre später, heute also, scheint das ganz vielen Menschen ähnlich zu gehen. In Deutschland jedenfalls halten sich weniger als zehn Prozent der Christen an einen regelmäßigen Kirchgang sonntags. Zu besonderen Anlässen wie Weihnachten mag es auch mal ein Drittel sein. In den umliegenden europäischen Ländern wie Frankreich, Tschechien, Österreich, Dänemark sieht es nicht viel besser aus. Liturgie und Predigt sind vielen Menschen fremd. Was aber eine ungeheure Faszination ausübt, sind die Kirchenräume und die Kirchenmusik. Kein Sommerurlaub vergeht, wo nicht die Kirchen voll sind mit Passanten, Besuchern, Touristen. Seit etwa die Marktkirche in Wiesbaden geöffnet ist, strömen Woche für Woche über tausend Menschen hindurch, zünden Kerzen an, halten inne zum persönlichen Gebet. Und dort, wo die Menschen sich zum Musizieren in der Kirche versammeln, wirkt sie faszinierend. Die Orgelmusik zur Marktzeit in meiner Stadt Wiesbaden zieht jeden Samstag bis zu vierhundert Teilnehmende an. Wenn ein großes kirchenmusikalisches Konzert stattfindet oder eine Gospelmesse, ist die Kirche richtig voll.

Wenn also der junge Georg Büchner von dieser Mystik des Christentums fasziniert war, woher rührt dann sein Ruf, unchristlich, unkirchlich, ja vielleicht sogar areligiös zu sein? Ich denke, es sind zwei Elemente. Zum einen: Die Kirchen waren zu Büchners Zeit mit der bestehenden politischen Unrechtsmacht verkoppelt. Das hat Georg Büchner klar gesehen und kritisiert. Zum anderen hatte Georg Büchner tiefe eigene theologische und, philosophische Fragen. Sie ließen ihn an der christlichen Botschaft zweifeln, in der Art, wie er sie vermittelt bekommen hatte.

Musik: Johannes Brahms, Ach, arme Welt, du trügest mich, Südfunkchor Stuttgart unter Rupert Huber

Schwere Lebens- und Glaubensfragen werden oft dann wach, wenn es einem nicht gut geht. Schon wenige Monate nach der glücklichen Straßburger Zeit muss Georg Büchner zurück nach Hessen an seine Landesuniversität nach Gießen. Es war nämlich nur erlaubt, zwei Jahre lang außer Landes zu studieren. Er vermisst seine Verlobte Minna sehr, es geht ihm gesundheitlich dreckig und was er über die mittelhessischen Lande schreibt, ist auch nicht gerade erquicklich:

„Hier ist kein Berg, wo die Aussicht frei sei. Hügel hinter Hügel und breite Thäler, eine hohle Mittelmäßigkeit in Allem; ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen, und die Stadt ist abscheulich.“

Was ihn aber viel mehr bedrückt als diese Äußerlichkeiten, sind seine philosophischen Fragen, die er in seinem berühmten „Fatalismus-Brief“ äußert:

„Ich studirte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.“ (…)„Was ist es, was in uns lügt, mordet,stiehlt?“

Das sind schwer wiegende philosophische und theologische Fragen: Wieso gibt es Leiden? Wieso gibt es Ungerechtigkeit? Warum sind Menschen fehlerhaft, und sogar boshaft, warum suchen sie das Böse? Der nun 20-jährige Georg Büchner stellt sie in aller Klarheit und Härte. Und mehr noch: Er lebte in einem staatlichen Gebilde, dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt, den er als Unrechtsstaat erkannte. Hier wurden einige seiner Freunde  wegen angeblich revolutionärer Umtriebe zu Tode gefoltert. Dazu kamen die miserablen sozialen Verhältnisse der verarmten Bauern, die nicht wissen, wie sie über den Winter kommen können. Das sind für Büchner Gründe genug, nach der Ungerechtigkeit und dem Bösen zu fragen.

Das Kirchenregiment war heillos mit den Machthabern verknüpft, da war mit Sicherheit keine Rettung zu erwarten; also entschließt sich Georg selbst zum revolutionären Handeln und verfasst – zusammen mit seinem Freund, dem Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig  – den Hessischen Landboten, ein Flugblatt, unter der Überschrift: „Friede den Hütten – Krieg den Palästen“.

Musik: J.G. Rheinberger, Konzert für Orgel und Orchester, g-moll, Lausitzer Phiharmonie; Orgel: H.D. Karras

„Friede den Hütten – Krieg den Palästen“ - Georg Büchner ergreift leidenschaftlich Partei für die armen, entrechteten, unterdrückten und hungernden Bauern, denen er in der Wetterau wieder und wieder begegnet. Viele treibt es zur Auswanderung nach Amerika, in die Neue Welt; andere überleben den Winter nicht; die Kindersterblichkeit ist erschreckend: oft überleben von neun Kindern einer Familie nur wenige die Kindheit. Gute Ärzte sind schlicht unbezahlbar für diese Familien. Weil Georg Büchner das klar sieht  und empfindet und ihn zornig macht, wird er radikal kritisch, vor allem gegen die Institutionen seiner Zeit. Alles, was sich mit dieser Obrigkeit, diesem Unrechtsstaat verbündet ist, erkennt er als Teil der Unterdrückungsmaschinerie. Da sind die Kirchen nicht ausgenommen. Den Hofprediger und seine Anbiederung an das Herzogshaus hatte er in Darmstadt oft genug erleben müssen.

Umgekehrt gilt: Überall dort, wo er Freunde in der Kirche fand, die die Augen nicht zumachten vor dem Elend seiner Zeit, konnte er sich mit ihnen zusammen tun und gemeinsam kämpfen. Der gewaltfreie Widerstandsgeist des Freundes und Pfarrers Friedrich Ludwig Weidig hatte es ihm zutiefst angetan. Entsetzlich ist:  Auch für den Freund Friedrich Ludwig Weidig hatte sein Engagement für die entrechteten Bauern schlimme Konsequenzen. Er wurde strafversetzt, schließlich in Darmstadt inhaftiert, dort gequält und hat sich angesichts dieses Leidens sein Leben genommen.

Musik: Felix Mendelsohn Bartholdy, Aus: Psalm 42 „Wie der Hirsch schreit“, Chamber Chor of Europe, Leitung Nicol Matt

Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht wirklich Zeit für eine neue, ungewohnte Lektüre Georg Büchners und seiner zeitlosen Werke wie Lenz, Woyzeck, Dantons Tod, Leonce und Lena. Wer aufmerksam liest, wird plötzlich gewahr, dass Georg Büchner die philosophischen und theologischen Fragen sehr nahe gegangen sind. Und dass er als 20, 21, 22 Jahre alter junger Mann alles andere als fertig ist mit diesen Fragen. Vielleicht ist er gerade darin auch den heutigen Zeitgenossen ähnlich. Viele stehen Liturgie und Predigt fern. Viele haben ihre Zweifel an der Institution Kirche. Viele vermissen von ihr klare Ansagen im Sinne der Klarheit der Bibel, der Klarheit auch der Worte Jesu. Die „Option für die Armen“, für die schon Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig standen. Und dennoch ist und bleibt da Frage nach dem Sinn. Und die tiefe Sehnsucht, darauf tragfähige Antworten zu finden.

Weshalb bin ich da? Wo ist der Sinn meines Lebens? Was trägt durch mein Sterben hindurch? Auch in diesem Sinn könnte der junge Georg Büchner unser Zeitgenosse sein. Er hat nicht nur ungeheuer modern gedichtet, sondern er hatte zugleich ein modernes Bewusstsein, fast so, als wäre er nicht 1813 geboren, sondern vielleicht 1960. Es gilt, einen kantigen, unbequemen und zugleich großen Hessen neu zu entdecken – auch für alle, die selbst Fragen nach dem Sinn und dem Glauben haben.

Musik: Felix Mendelsohn Bartholdy, Aus: Psalm 42 „Wie der Hirsch schreit“, Chamber Chor of Europe, Leitung Nicol Matt