Von Gott verlassen?
Es gibt Momente, in denen verstehe ich Gott einfach nicht. Da muss ich meistens an Worte aus dem 22. Psalm denken. Da fleht ein Mensch zu Gott:
„Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.“
Ein solcher Moment war für mich, als ich davon hörte: Ralf, ein junger Familienvater, den ich gut kenne, hat einen aggressiven Tumor im Kopf. Die Diagnose kam aus heiterem Himmel. Und sie traf Ralf im Alter von 42 Jahren, mitten im Leben. Bis dahin war er ein kerngesunder Mann, der gesund lebt und viel Sport treibt. Der auch gerne im Garten arbeitet, wenn es sein Beruf erlaubt – und wenn es nicht von seiner Zeit mit den Kindern abgeht. Zwei Kinder haben er und seine Frau. Und das ist vielleicht das Schlimmste: das zweite ist gerade erst geboren worden. Das erste ist fünf Jahre alt. Und alle drei brauchen ihn: Seine Frau als Partner und Miternährer der Familie, seine Kinder als Vater. Er selbst hat noch so viel vor. Er reist gerne, er hat Ideen für seine berufliche Zukunft. Er möchte erleben, wie seine Kinder groß werden und irgendwann einmal mit seinen Enkeln spielen. Von all dem muss er sich nun verabschieden. Er wird es nicht mehr erleben. In seinem Kopf wächst ein äußerst seltener und aggressiver Tumor. Die Ärzte sagen, dass er kaum damit rechnen kann, noch einmal Weihnachten zu feiern.
Die Diagnose hat alle völlig unvorbereitet getroffen. Sie zerstört die Familie. Schon jetzt, obwohl er noch lebt. Der nahende Tod liegt über allem. Und damit kämpfen auch jetzt schon alle, mit ihrer Trauer, mit ihrer Wut und ihrer Angst. Gleichzeitig suchen sie nach einem rettenden Strohhalm, sie hoffen auf ein Wunder: Es gibt doch Leute, die so etwas überleben, wie durch ein Wunder!
Und über allem schwebt ein bohrendes Wort, ein Schrei oder ist es sogar eine Anklage? Das Wort: Warum? Warum er? Warum jetzt schon? Warum überhaupt? Und ich als Christ frage mich: Warum, Gott?
Musik: Peter Togni, Lamentation
Schöne Dinge bringt man gerne mit Gott in Verbindung. Wenn man von einer Krankheit geheilt wird, wenn man wieder einen Arbeitsplatz findet, wenn man vor einem Unglück bewahrt wird, dann fühlt man sich beschenkt, gesegnet und ist dankbar. „Gott sei Dank!“, sagen dann auch viele, die sonst nicht so eifrig an Gott glauben. Aber in einem solchen Moment möchten sie ihre Freude ausdrücken mit einem „Gott sei Dank!“. Dahinter steckt die Vorstellung, dass die Geschicke der Welt und meines Lebens irgendwie gelenkt werden – von Gott, dem Allmächtigen, dem Schöpfer des Himmels und der Erde. So heißt es im christlichen Glaubensbekenntnis.
Aber wenn es stimmt, dass Gott die Welt steuert, wenn er auch mein Leben schenkt und bewahrt, was ist dann mit den schlimmen Ereignissen in dieser Welt? Was ist mit Ralf, dessen Zukunft abgeschnitten ist? Was ist mit den Opfern des Amoklaufs im vergangenen Dezember in der Schule in den USA? Und mit den Opfern der Kämpfe in Syrien? Und mit den Verhungerten an vielen Stellen der Welt? Alles von Gott gewollt? Oder zumindest zugelassen? Jedenfalls nicht verhindert!
Ja, auch das gehört dazu. Und das zeigt, dass Gott offenbar nicht nur der liebe Gott ist, dem man sich gerne anvertrauen mag. Sondern, dass er auch der dunkle, der schicksalhafte ist, vor dem man sich lieber verstecken möchte. Er lässt zu, dass Menschen verletzt werden, scheitern, trauern und sterben.
Geschieht dies grundlos und sinnlos? Auf die Warum-Frage suchen viele eine Antwort. Denn ohne Antwort halten sie das Leiden noch schwerer aus. Es hilft ihnen, wenn sie einen Grund dafür sehen oder eine Schuldigen finden oder zumindest einen Zweck dafür angeben können. Gerade die Umstehenden verlangen danach. Ihnen gelingt es viel leichter, sich vom Elend abzuwenden, wenn sie sagen können: „Der ist ja selbst schuld, hat viel zu viel geraucht oder ungesund gegessen oder hat sich überarbeitet oder ist familiär vorbelastet.“
Es gibt auch viele religiöse Versuche, die Frage nach dem Warum zu beantworten. Eine Antwort ist die Idee, dass dahinter ein geheimer Plan Gottes stecken könne, der sicher gut sei, den man aber jetzt noch nicht erkenne. Ein anderer Antwortversuch ist, dass es sich dabei um eine Strafe handeln könnte. Gott strafe mit der Krankheit eine Schuld, die der Kranke auf sich geladen habe. Ein dritter Antwortversuch ist die Vermutung, dass es sich um eine Prüfung handelt. Gott prüfe mit dem Elend die Glaubensstärke des Betroffenen.
Für mich sind das alles problematische Versuche, einem schrecklichen Ereignis einen Sinn zu geben. Problematisch sind sie vor allem für die Leidtragenden selbst. Denn solche Gründe legen es direkt oder indirekt nahe, dass sie selbst schuld an ihrem Elend sind. Für die Umstehenden ist das anders. Für sie ist es leichter zu ertragen, wenn sie im Leiden einen Sinn vermuten können. Wenn sie keinen finden, dann sind Leiden und Sterben noch viel schwerer zu ertragen.
Ich denke an die Kinder, die in Newtown von einem Amokschützen erschossen wurden. Sinnlos ermordet in ihrer Schule. Grauenhaft! Nicht auszuhalten! Aber vielleicht ermöglicht ihr Tod, dass die USA nun endlich schärfere Waffengesetze einführen. Manche der Eltern setzen sich dafür ein, denn dann hätte der Tod ihrer Kinder doch noch ein Wozu und Warum gehabt.
Ähnliches versuchen viele auch für die Toten in den Kriegen. Viele sagen: „Schlimm, dass sie sterben mussten, die jungen Menschen an den Waffen, und die Zivilisten in den zerstörten Häusern. Aber dann doch wenigstens als Helden oder als Opfer für eine gute Sache. Bloß nicht sinnlos!“ Das ist die Sehnsucht vieler.
Ich bin da skeptisch: Es mag sein, dass Leiden einen Sinn erhalten kann. Vielleicht nachträglich. Vielleicht entdeckt jemand, dass er durch das erlittene Leid für sein Leben etwas Wichtiges entdeckt oder gelernt hat. Aber das kann nur der Betroffene selber sagen –vielleicht. Vielleicht auch nie.
Musik: Arvo Pärt, Konzert für Violoncello und Orchester, Satz 3
In der Krankheit einen Sinn erkennen – Ralf, der 42jährige Mann, den ein Gehirntumor bald das Leben kosten wir, kann das nicht. Und er will es auch nicht. Er nimmt seine Krankheit hin als Schicksalsschlag, der ihn trifft. Einfach so – ohne Grund und Sinn. Zurzeit ist er pragmatisch und realistisch. Er fragt: Was bleibt mir noch und wie kann ich das, was bleibt, möglichst gut leben? Damit kommt er zurecht und ich bewundere, wie ruhig er mit seiner Situation umzugehen scheint. Ob er damit sich und anderen gegenüber ehrlich ist? Ich weiß es nicht. Erwartet hätte ich einen heftigen inneren Kampf der Gefühle und Gedanken. Erwartet hätte ich, dass er Höhen und Tiefen durchlebt. Und dass er immer wieder mit der Frage nach dem Warum kämpft. Manchmal wünsche ich ihm, dass er das könnte, das er jemanden hätte, dem er seine Fragen entgegen schreiben könnte, wie der Beter von Psalm 22: „Mein Gott, warum ...?“
Mich lässt diese Frage jedenfalls nicht los. Denn wenn es keine Antwort darauf gibt, wenn also das Leiden keinen Sinn hat, hat dann auch das ganze Leben womöglich keinen Sinn?
Dem kann ich als Christ nur widersprechen: Natürlich hat das Leben einen Sinn. Es ist ein Geschenk Gottes. Und auf dieses Geschenk antworte ich durch die Art, wie ich es lebe. Jeden Tag achte und hüte ich dieses Geschenk. Aber wenn das Leben insgesamt diesen Sinn hat, dann muss das doch auch für alles gelten, was darin geschieht. Also auch für die Krankheit von Ralf. Also auch die Ungerechtigkeit und die Armut in vielen Ländern der Welt. Und all das, was Menschen quält und was sie daran hindert, ein sorgenfreies und gutes Leben zu führen.
Warum müssen Menschen leiden? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Und es ist gut, dass niemand mit ihr alleine bleiben muss. Auch Jesus hat sie gestellt. Er ist sogar mit dieser Frage auf den Lippen gestorben.
„Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“
Das schreit Jesus in die Welt hinaus, als er am Kreuz hängt und stirbt. Es sind seine letzten Worte. So erzählen es die Evangelisten Markus und Matthäus. „Warum?“ - Jesus stirbt mit dieser bangen Frage auf den Lippen: „Warum bin ich im Tod von Gott verlassen?“
Ein furchtbarer Moment: Jesus, der Sohn Gottes, der wunderbare Heiler und Menschenfreund, der engagierte Prediger, der so vielen Menschen für ihr Leben eine Richtung und eine Hoffnung gegeben hat, ausgerechnet der stirbt in der Angst, von Gott verlassen zu sein! Ausgerechnet der stirbt, ohne dafür einen Sinn zu erkennen! Wie ihm geht es vielen. Ob es ihnen hilft, dass Jesus mit ihnen dieses Elend teilt? Ich wünsche es ihnen.
Gepeinigt von Schmerzen, innerlich zerrissen von Trauer - in solchen Momenten geht vielen der Glaube an den lieben Gott verloren. Da können sie entweder gar nichts mehr glauben. Oder sie fühlen sich von Gott gestraft und geschlagen. Vor dem wollen sie sich am liebsten verkriechen. Irgendwo verstecken, damit er sie nicht mehr sieht. Aber wohin verstecken? Wohin flüchten, um geborgen zu sein und getröstet?
Der Reformator Martin Luther hat diesen Moment gekannt: Die verborgene, die dunkle Seite Gottes hat er das genannt. Dieser schicksalhaften, dunklen Seite möchte er gern entkommen. Zur barmherzigen Seite Gottes möchte er finden. „Vor Gott zu Gott fliehen“, so hat Luther das beschrieben. Das klingt verrückt, paradox: Man flieht vor Gott zu Gott?!
Aber das ist auch irgendwie verständlich. An wen sonst sollte man sich wenden in der größten Not, in der schlimmsten Angst, in der tiefsten Ohnmacht? An wen, wenn nicht an Gott?
So haben es auch viele Menschen in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten gemacht. Dort wurden Millionen Juden erniedrigt, ausgebeutet, gequält, zuletzt ermordet und verbrannt. Der Rauch ihrer brennenden Leiber verdüsterte den Himmel. Dort, am Ort unvergleichlicher Gottesferne, haben natürlich auch Menschen Gott verloren. Oder mit Gott gehadert und dennoch an ihm festgehalten. Einer hat es so gesagt: „Ich glaube an die Sonne, auch wenn ich sie nicht sehe. Ich glaube an Gott, auch wenn er nicht da ist.“
Musik: Arvo Pärt, Sinfonie Nr. 3, Satz 2
In seiner größten Not am Kreuz wendet sich Jesus an Gott und klagt ihm, dass er ihn verlassen hat: „Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“ Ein Widerspruch in sich? Ja, aber einer, der zu den Widersprüchen des Lebens passt. Und zu den Erfahrungen, die Menschen darin machen.
Jesus stellt sich nicht die Frage, ob er von Gott verlassen ist. Nein, er sagt, wie er es erlebt. Selbst er, der Sohn Gottes, erlebt diesen Moment des völligen Verlassenseins, den viele in den dunklen Momenten ihres Lebens auch erleben. Jesus fragt: Warum und wozu? Darauf bekommt er im Sterben keine Antwort. Auch für ihn bleibt diese Frage offen. Das ist bei ihm nicht anders als bei vielen anderen Menschen auch.
„Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“ Diese Worte hat sich Jesus nicht ausgedacht. Wie so oft, wenn Menschen am Ende sind, erfinden sie keine eigenen Worte, sondern sie erinnern sich an Worte, die sie von Kindheit an begleitet haben. Der letzte Satz Jesu ist so einer. Es ist der erste Satz des Psalms 22. Den hat Jesus gekannt. Sicher hat er ihn oft gebetet, beim Gottesdienst in der Synagoge. Oder unterwegs, wenn er verzweifelt war. Dann fallen einem solche Sätze ein. Man leiht sie sich, um etwas auszudrücken, für das man in diesem Moment keine eigenen Worte hat. So wie Sterbende heute den Psalm 23 beten:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue, er erquicket meine Seele.... Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück.“
Diese Worte fallen ihnen ein, wenn sie ausdrücken wollen: „Ich fühle mich im Sterben geborgen“. Mancher, der diesen Psalm betet, spürt etwas von dieser Geborgenheit. Andere werden den Psalm eher mit bangem Herzen sprechen, weil sie diese Geborgenheit herbei beten möchten. Viele Ältere haben den Psalm im Konfirmandenunterricht auswendig gelernt. Er ist für sie zu einer Art eisernen Ration des Glaubens geworden. Er wird gebetet, wenn eigene Worte fehlen.
Musik: Arvo Pärt, Sinfonie Nr. 3, Satz 2
Es gibt Momente, in denen man selbst sprachlos und hilflos ist. Dann kann es helfen, sich auf die lange Tradition des Glaubens zu besinnen. Die Bibel bietet dafür einen großen Schatz von Glaubenszeugnissen. Dazu gehören Bilder der Hoffnung und der Verzweiflung. Viele Menschen haben sie schon geprüft an ihrem eigenen Leben und Sterben. Und es hat ihnen geholfen, ihre Situation auszuhalten.
Genau das tut auch Jesus. Er betet den Psalm 22, weil dessen Worte genau das ausdrücken, was er gerade empfindet. Der Psalm hat Bilder dafür:
„Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.... Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Knochen haben sich von einander gelöst. Mein Herz ist in meinem Leib wie geschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe.“
Der Psalm entwirft Bilder, die gut beschreiben, wie sich Leiden anfühlt. Doch der Psalm lässt den Beter nicht ganz ohne Trost. Er beschwört auch die guten Erfahrungen, die Menschen vor ihm mit Gott gemacht haben: „Gott hat sich seines Volkes doch schon so oft barmherzig angenommen, das wird er doch sicher auch bei mir wieder tun“ – so folgert der Psalm unausgesprochen, wenn er sagt:
Gott hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen. Und als er zu ihm schrie, hörte er´s.
Es klingt, als wolle sich hier jemand erinnern und zugleich mahnen. Der Beter spricht sich damit sich selbst Mut zu. Und er erinnert Gott: „Hier ist jemand, der dich brauchst. Hier ist jemand, der auf Rettung wartet.“
Der Psalm 22 ist so widersprüchlich, wie es das Leben in Not ist. Es schwankt zwischen der Angst, von Gott verlassen zu sein, und der Hoffnung, von Gott gerettet zu werden. Diesen inneren Zwiespalt empfinden viele Menschen in tiefster Not. Zu ihnen gehört auch Jesus am Kreuz. Er muss warten und sogar sterben, bevor er erkennen kann, dass Gott ihm doch aufhilft. Und das tut Gott nicht nur bei ihm.
Musik: Max Reger, Agnus Dei